Erfahrungsbericht Ecuador

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Land
Ecuador
Träger
ICJA Freiwilligenaustausch weltweit e.V.
Freiwillige/r
Kai Nehen

Colegio Nacional Cumbaya


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Rundbrief August 2008


1. Abschied nehmen


"Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen." - so einst Johann Wolfgang von Goethe. Zu jeder Reise gehoert zwanghaft auch der Abschied, der - je nach Dauer der anstehenden Reise - leichter oder schwerer fallen kann. Mir persoenlich ist der Abschied schwer gefallen, da ich zum ersten Mal meine Freundin, meine Familie und meine Freunde hinter mir lasse. Die Freude auf das Wiedersehen mit den vertrauten Menschen und die Vorfreude auf das mir bevorstehende Abenteuer sorgten dafuer, dass ich mich auf das mir bevorstehende Jahr trotzdem freuen konnte.

2. Das Vorbereitungsseminar in Berlin-Wedding



Das Vorbereitungsseminar fand in der Gaeste-Etage in Berlin-Wedding statt. Ein denkbar geeigneter Ort, um 60 angehenden FSJlern das Allernoetigste fuer ein Jahr fernab der Heimat zu vermitteln. An dieser Stelle ein Auszug aus meinem Internet-Tagebuch zu dem Vorbereitungsseminar:
"Liebe Freunde, Förderer, liebe Familie, seit nun knapp zwei Tagen bin ich in Berlin, genauer gesagt in Berlin-Wedding in der Gaeste Etage. Ein wunderschöner Ort, um sein Vorbereitungsseminar zu bestreiten. Ein sehr schöner, offener Bau - in den nächsten Tagen / Wochen werde ich auch die ersten Bilder nachreichen, im Moment habe ich einfach keine Zeit dazu.

Unser Programm hier ist ziemlich vollbepackt mit allen möglichen Aktivitäten, vom Besuch der Konzentrationsstätte Sachsenhausen über so genannte "Energizer", die einen vor jedem Einheitenmarathon dazu motivieren sollen, fit zu sein; was bisweilen auch ganz gut klappt. Die einzelnen Programmpunkte verteilen sich wie folgt:
Frühstück um Halb Neun
Erste Programmeinheit von Neun Uhr bis Halb Eins
Mittagessen um Halb Zwei
Nächste Programmeinheit von Drei Uhr bis Halb Sechs
Von Halb Sechs bis Sieben sitzen wir dann nochmal in kleineren Gruppen zusammen und reflektieren das am Tag besprochene.

Im Wesentlichen ging es bisher um die Reflexion der eigenen Identität, des eigenen Verhältnisses zu anderen Menschen und umgekehrt, Selbstwahrnehmung, etc. . Das Ganze wird dann in lockerer Form an den Mann gebracht … Heute ging es z.B. eingangs darum, typische Eigenschaften der Zitronen aufzuschreiben ("Alle Zitronen sind …"), um dann in einer weiteren Einheit eine Zitrone in die Hand zu bekommen und diese einzelne Zitrone in ihren besonderen Eigenschaften zu beschreiben - das pädagogische Ziel ist denke ich sehr offensichtlich.

Es ist wirklich gut hier. Die Leute sind nett, die Arbeitsatmosphäre ist super und abgesehen vom vegetarischen Essen und den mich manchmal ereilenden Anstürmen von Frust, da ich meine Freundin nicht sehen kann, bin ich rundum zufrieden.
Nun bin ich auch offiziell ein Angestellter des ICJA e.V.

Wir haben heute die Arbeitsverträge unterschrieben - ein bewegender Augenblick."

Das Vorbereitungsseminar war - wie sich aus dem obigen Eintrag herauslesen laesst - sehr gut durchstrukturiert, paedagogisch gelungen, fordernd und gleichzeitig eine prima Gelegenheit, neue Freunde zu finden. Weitere Themen war unter anderem das deutsche Asylrecht, beziehungsweise die allgemeine Situation politischer, religioeser, ...

Fluechtlinge weltweit. Es ist sehr bewegend, wenn ein togolesischer Referent einem von Ungerechtigkeiten erzaehlt, von denen zumindest ich mir nicht vorstellen konnte, das derartiges in Deutschland passiert.

So wurde Paul beispielweise bei einem Lokalmarathon in Cottbus mit Bierflaschen und weiteren Gegenstaenden beworfen, bis er letztendlich ohnmaechtig wurde und im Krankenhaus aufwachte. So wurde er von einem rassistischen Schaffner kontrolliert, der - nachdem er ihn dazu aufgefordert hatte, sein Laenderticket der Deutschen Bahn mit einem Namen zu versehen und Paul dies mit seinem Taufnamen ("Paul") und eben nicht mit seinem buergerlichen Namen tat - die Polizei rief und den Beamten berichtete, dass Paul das Ticket geklaut habe.

In einer Welthandelssituation ("World of Trade") - die fuer mich persoenlich das Highlight des Seminars war - wurde uns gezeigt, warum "Industrienationen" leichter faellt, wirtschaftlich zu prosperieren als z.B. sogenannten "Entwicklungslaendern". Ziel des Spiels war es fuer jedes einzelne Land, welches aus zwei bis drei Arbeitskraeften, einem Diplomaten und einem "Businessman", welcher fuer wirtschaftliche "Abkommen" zwischen den Laendern zustaendig war. Ausserdem gab es die Weltbank, die die durch die Laender produzierten Produkte abnahm und dafuer die entsprechenden Mengen an Geld auszahlte und die Vereinten Nationen, die Japan und Frankreich in ihren Entscheidungen favorisieren sollten, jedoch insgesamt fuer ausgeglichenere Wirtschaftsstaerken sorgen sollten.

Bereits die Positionierung der einzelnen Laender verdeutlichte die ungleichen Chancen auf dem Welthandelsmarkt, so waren Frankreich und Japan beispielsweise direkt neben der Weltbank positioniert, waehrend Tansania abgeschottet im Hinterhof zu arbeiten hatte. Ausserdem besass jedes Land eine unterschiedliche Ausstattung an Arbeitsgeraeten, manche Laender besassen nur eine einzige Arbeitskraft, usw. . Diese ungerechte Verteilung an Produktionsmitteln - um an dieser Stelle einen Terminus von Marx´ und Engels zu benutzen - und weitere per se angelegte ungerechte Zustaende fuehrten zu Buergerkriegen, zu Korruption und zu Ueberfaellen.

Als abschliessendes Beispiel moechte ich den Film "Darwins Albtraum" anfuehren; ein Dokumentarfilm, der auf schockierende Art und Weise darstellt, wozu die im Spiel "World of Trade" simulierten Ungerechtigkeiten in der Realitaet unter anderem fuehren koennen:

"Darwins Alptraum (Originaltitel: Darwin's Nightmare) ist ein französisch-belgisch-österreichischer Dokumentarfilm des österreichischen Regisseurs Hubert Sauper aus dem Jahr 2004. Der vielfach preisgekrönte Film dokumentiert die ökologische und wirtschaftliche Katastrophe am ostafrikanischen Viktoriasee durch das Aussetzen des Nilbarsches."

Ich kann jedem diesen Film nur an das Herz legen - ein unglaublich beeindruckendes Beispiel der alltaeglichen Lebensrealitaeten vieler Menschen auf dieser Welt.

3. Der Flug nach Ecuador und die ersten Tage in einer neuen Umgebung


Nachdem wir in Berlin endlich unsere Visa erhalten hatten, stand unserem Flug ins Ferne Ecuador nichts mehr im Wege. Nachdem ich mit Jakob zusammen nach Hanau bei Frankfurt am Main gefahren bin, holten uns mein Vater, meine Mutter und mein Onkel vom Bahnhof ab, um zusammen mit uns einen letzten Abend zu Hause bei meinem Onkel mit meiner Tante zu verbringen. Es war wunderschoen, noch ein letztes Mal einen Grossteil meiner Familie zu sehen und wir haben einen wirklich schoenen Abend miteinander verbracht.

Am naechsten Morgen fuhren wir dann mit dem 6-Uhr-Zug nach Frankfurt am Main. Der Check-In verlief problemlos, auch wenn mich die aus juristischen Gruenden notwendigen Fragen vor einer Einreise in die USA einer DELTA-Airlines Angestellten verwirrten. So wurden Jakob und ich beispielsweise gefragt, ob wir Sprengkoerper oder andere explosive Gegenstaende mit uns fuehrten oder ob wir am Voelkermord zwischen 1933 und 1945 beteiligt gewesen seien.

Der Flug nach Atlanta verlief problemlos, nachdem wir den "Immigrationsprozess" hinter uns hatten - der auch fuer jeden sich auf der Weiterreise befindenden notwendig ist - mussten wir alsbald feststellen, dass unser Weiterflug nach Qutio gestrichen wurde. Nach mehreren Stunden Wartens, einer endlich erfolgreichen Umbuchung der Tickets auf den Flug in zwei Tagen, entschlossen wir uns, ein nahe gelegenes Hostel aufzusuchen, um unseren vom Jetlag geplagten Koerper die verdiente Ruhe zu geben.

Im "Best Western Inn" konnten wir - die vier Ecuadorfahrer Jakob, Kai Hasenclever, Paul, eine deutsche Studentin und ich - uns dann endlich die verdiente Muetze Schlaf geben. Am naechsten Morgen sind wir relativ freuh zum Flughafen gefahren, um zu sehen, ob wir vielleicht am gleichen Tag einen Weiterflug nach Quito bekommen koennten. Konnten wir auch und zwar sollte der Flug innerhalb einer Stunde gehen. Wir sind also durch die amerikanischen Sicherheitskontrollen gesprintet - Schuhe ausziehen bitte nicht vergessen. Letztendlich ist alles glatt gelaufen und wir waren uebergluecklich als wir in Quito, dessen Flughafen mitten in der Stadt liegt, ankamen.


Mein Gepaeck traf in Quito leider erst mit zwei Tagen Verspaetung ein, dafuer erhalte ich nun aber von DELTA-Airlines einen Scheck in der Hoehe von 50 US-$. Ueberwaeltigt von den neuen Eindruecken, empfing mich meine unglaublich nette Gastmutter am Flughafen und fuhr zusammen mit mir nach Cumbayá - meiner neuen Heimat fuer ein Jahr.


Unglaublich viele neue Eindruecke prasselten auf mich nieder. Der im Vergleich zu Deutschland unglaubliche Strassenverkehr, das staendige Gehupe der Busfahrer, die kleinen Kinder, die einem Tageszeitungen, Mandarinen und an verregneten Tagen sogar Regenschirme anbieten, die unglaubliche Landschaft, die Millionenstadt Quito.

Meine Gastfamilie hat mich wirklich sehr gut aufgenommen und ich bin gluecklich in einer so tollen und vor allem netten Familie leben zu duerfen. Mein Gastvater Bolivar hat zwei Jahre in Deutschland gelebt, er arbeitet bei einer grossen Elektrikfirma in Qutio als Analyst, meine Gastmutter Grace hat frueher als Uebersetzterin gearbeitet und mein Gastbruder Andrés ist leidenschaftlicher Fussballspieler bei "La Liga de Quito" und besucht noch die Schule.

4. Land, Leute und wichtige Erfahrungen


Es ist wirklich unglaublich, wie viele vielschichtige Erfahrungen man als gemeiner "Gringo" in Ecuador machen kann. Kinderarbeit wird hier nicht verurteilt, sie wird als Notwendigkeit fuer die Kinder angesehen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, beziehungsweise den der Familie. Als Europaer wirken die verschiedenen Strassenverkaufer und die zahlreichen Kinder, ihre zu verkaufenden Produkte anpreisend, durch den Bus gehen und einen mit grossen Augen angucken, befremdlich.

In einigen der verschiedenen Buslinien, die mit ihren droehnenden Gefaehrten, in denen man manchmal auch vertraute Musik wahrnehmen kann - Modern Talking laesst gruessen, werden keine Tickets geloest, sondern man bezahlt waehrend der Fahrt. Dies hat zur Folge das jeder Bus einen Fahrer und einen Kontrolleur hat; nicht selten versuchen die Kontrolleure dem Europaern das Doppelte des ueblichen Fahrpreises abzuverlangen. So kann es vorkommen, dass wenn man zu dritt in den Bus steigt, jeder einzelne einen unterschiedlichen Preis zahlt. Ein weiteres unglaublich guenstiges Transportmittel in Ecuador ist das Taxi. Tagsueber regelt das Taximeter die anfallenden Kosten, nachts ist alles Verhandlungssache, wobei man darauf achten muss, dass man auf jeden Fall in ein registriertes Taxi einsteigt, da koerperliche Bedrohungen sonst nicht auszuschliessen sind.

Viele Ecuadorianer sind sichtlich interessiert, wenn ein Weisser in ihrer Naehe auftaucht und bombardieren einen mit Fragen nach der eigenen Herkunft, was man hier in Ecuador mache und vor allem wie einem Ecuador gefalle. Bei derartigen Fragen - ¿Te gusta?, etc. - geht es nicht darum mit deutscher Gruendlichkeit abzuwaegen, ob nun die Vorzuege oder eher doch die schlechten Seiten ueberwiegen, da der Gespraechspartner im Regelfall nicht an einer differenzierten Meinung interessiert ist.

Aber dies macht auch nichts, es ist einfach eine andere Art des Umgangs miteinander. Im Gegensatz zu der deutschen Kommunikationskultur ist die Beziehungsebene deutlich wichtiger als die Sachebene - will heissen, dass Fragen nach dem Befinden, ein kurzes oberflaechliches Gespraech zu jedem guten Gespraech dazu gehoeren.

Fuer mich als durchorganisierten Menschen ist der ecuadorianische Lebensstil einfach eine ganz neue Erfahrung. Es macht nichts, wenn man spaeter losfaehrt als geplant, es macht nichts, wenn meine Gastmutter ihr Handy verliert und es erst zwei Tage spaeter auftaucht; ich habe bisher den Eindruck das vieles hier einfach lockerer gesehen wird, es ist einfach eine entspanntere Art des Lebens - so scheint es mir zumindest im Moment.

Das Essen in Ecuador ist sehr vielseitig; da Ecuador von einem starken Regionalismus gepraegt ist, lassen sich sowohl in Quito als auch in Cumbayá die verschiedensten Gerichte finden - von Empanadas1 ueber Bananas Fritadas2, bis hin zu Pollo3 mit Reis und einer leckeren Knoblauchsauce. Natuerlich bleibt auch die ecuadorianische Esskultur nicht von den amerikanischen und europaeischen Einfluessen befreit, so lassen sich beispielsweise zahlreiche McDonalds-Geschaefte in der Innenstadt Quitos finden.

In der letzten Woche hat mich dann auch meine erste Durchfallerkrankung ereilt, seitdem habe ich (fast) nur noch zu Hause gegessen, da man sich - sobald man in einem Restaurant essen geht, nicht sicher sein kann, ob alles wirklich "fresco"4 ist. Grace verplegt mich allerdings bestens und so half eine Menge an Tee und "pan"5 mir, die Durchfallerkrankung fuers Erste hinter mir zu lassen. Da meine Familie fuer ecuadorianische Verhaeltnisse durchaus wohlhabend ist - so kuemmert sich zum Beispiel gerade eine Hausangestellte um die anfallenden Waescheberge - sind die hygienischen Zustaende hier sehr gut und ich kann mich wirklich in keinster Weise beschweren.

Jakob und Paul hat es hingegend schlechter getroffen. Jakob hat uns gestern von den hygienischen Zustaenden bei ihm zu Hause berichtet. Von Flohbissen, ueber durch die Speisekammer huschende Ratten, bis hin zu auf dem Boden deponierten Zahnbuersten scheint alles dabei zu sein, was jeden Kontrolleur deutscher Lebensmittelbehoerden ohnmaechtig werden liesse. Wir fuehlen uns hier aber alle sehr wohl und ich kann nur nocheinmal wiederholen, dass es mir heir sehr gut geht.

5. Die Arbeit


Aufgrund der deutschen Gesetzeslage mussten wir direkt nach unserem Vorbereitungsseminar ausreisen. Dies hat nun zur Folge, dass wir, nachdem wir hier in Ecuador eine einwoechige Orientierungsphase hatten bis zum 25ten August in einem Kinderheim in Quito arbeiten werden:

"Mein erster Arbeitstag am Dienstag in der Fundacion REMAR in Quito war … interessant. Wir mussten eine Lagerkammer saubermachen, die mit schimmeligem Essen einfach nur ueberfuellt war; nach zwei Stunden Aufenthalt und zwei Stunden des Saubermachens bzw. Aufraeumens stellte sich dann auch ein "leicht" beissender Geruch in der Nase ein. Also raus zum entspannteren Teil der Arbeit: dem Spielen mit den Kindern.
Denkste. Die Kinder waren teilweise so frech, dass sie mich als haesslich beschimpft haben und zwei von uns angespuckt haben und sehr aufdringlich wurden, wenn man ihnen kein "ultima mas" auf dem "zerbrechlichen" Ruecken des Freiwilligen geben wollte."

Unser Verhaeltnis zu den Kindern hat sich mittlerweile normalisiert und die Arbeit macht - auch wenn ich zugeben muss, dass ich sie niemals ueber ein komplettes Jahr tun koennte - Spass.

Nachdem wir Vormittags in der Fundación REMAR gearbeitet haben, ging es in der vergangenen Woche und in dieser Nachmittags zum dreistuendigen Spanischunterricht. Dieser wird von einer Volksschullehrerin abgehalten, die es versteht, in einer moeglichst kurzen Zeit uns so viel Lehrstoff wie moeglich zu "verabreichen". Im Regelfall bin ich dann um 19 Uhr zu Hause, esse mit meiner Familie und entspanne, beziehungsweise mache Spanischhausaufgaben.

Vom 25ten August bis zum 31ten August werden wir an einem weiteren Vorbereitungsseminar der ecuadorianischen Partnerorganisation des ICJA mit anderen internationalen Freiwilligen teilnehmen, um dann am ersten September mit unser eigentlichen Arbeit anzufangen.

Ich hoffe, dass Ihr einen guten Eindruck in mein Leben hier vor Ort erhalten habt und kann nur nocheinmal sagen, dass ich Euch allen fuer Eure Unterstuetzung danke und mich auf jegliche Antworten Euererseits sehr freue.

Euer Kai

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