Erfahrungsbericht USA

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Land
USA
Träger
Verein für soziale Dienste International e.V.
Freiwillige/r
Philip

Franciscan Outreach Association

Bei der Franciscan Outreach Association in Chicago (Illinois) 05/06

Jetzt ist es dann also soweit. Ich sitze nach einem Jahr Chicago wieder zu Hause, bin noch gar nicht so richtig heimisch und darf jetzt meine Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Zeit auf Papier bringen:
Als ich im Sommer 2005 in Chicago ankam, wusste ich erst überhaupt nicht, was mich dort wohl erwarten wird und worauf ich mich einstellen kann. Gedanken, die wohl jeden in einer solchen Situation beschäftigen. Das alles änderte sich jedoch schnell, denn gleich an meinem ersten Tag erreichte meine Flughafeneskorte und ich unseren "shelter" (Obdachlosenherberge) und von der ersten Minute an war ich der Arbeit verpflichtet. An die ersten Eindrücke kann ich mich noch wie heute erinnern: Es war Abend, als unser Auto an meinem zukünftigen Arbeitsplatz ankam und ich erstmals schon staunen musste, dass ich zum Einen in dieser Nachbarschaft leben darf (bzw. muss) und dass sich zum Anderen ca. 100 Obdachlose schon vor den Türen versammelt hatten, um auf die tägliche Öffnung der Schlafsäle zu warten.
Als Kind einer dörflichen Familie schwäbischer Herkunft war dieser Anblick mehr als nur ein Schock für mich, doch es war zugleich auch unvorstellbar, mit welchen freundlichen Gefühlen mich die Gäste schon am ersten Tag in die Gemeinschaft integriert haben.

Von diesem Zeitpunkt an war mein Hauptziel, die Arbeit (von den anderen full-time volunteers) zu erlernen und mich so gut es eben ging schnell in die Arbeitstruppe einzugliedern. So habe ich im Laufe der ersten Wochen auch erfahren, dass die Arbeit mehr als nur vielseitig und stressig sein kann, doch auf der anderen Seite auch der Kontakt zu unseren Gästen unheimlich wichtig für eine reibungslose Funktion des Systems ist. Im Grunde hat sich das wie ein roter Faden durch das ganze Jahr gezogen, denn aus Gästen wurden Kumpels und aus einer Arbeit wurde eine Mission.
Der Hauptbestandteil unserer Arbeit am shelter ist es, 3mal täglich Obdachlose, welche die Nacht im kostenlosen Schlafgemach schlafen wollen, auf einer Liste einzutragen, um ihnen so ein Bett nach dem "wer-zu-erst-kommt-mahlt-zu-erst" -Prinzip für die Nacht zu reservieren. Wenn diese Liste voll ist, sind alle Betten vergeben und Gäste haben nur noch eine minimale Chance auf ein Bett, nämlich dann, wenn einer der vorreservierten Gäste nicht zur Öffnung um 20.30Uhr auftaucht. Dies passiert aber eigentlich doch relativ oft, denn viele Leute erwägen unsere Nachtstätte nur als eine Option von mehreren, doch egal wie, aber fast jede Nacht müssen wird Leute abweisen, da wir bis auf den letzten Platz voll sind.
Die Öffnung läuft dann auch jeden Abend nach dem gleichen Muster ab: Zunächst lassen wir unsere ca. 35 Frauen in den separaten Frauenschlafsaal, wobei durch die geringe Bettanzahl das "Namennehmen" tagsüber wegfällt und wir einfach jeder Frau, die die letzte Nacht im shelter verbracht hat, ihr Bett für den nächsten Tag reservieren und übrige Betten im Lotterieverfahren vergeben. Wenn das getan ist, geht es zu den Männern über, wo das ganze Spiel von neuem beginnt, nur ein wenig anders: Zuerst dürfen unsere ca. 80 "regulars" (regelmäßigen Gäste) eintreten, welchen ihr eigenes Bett + Spinnt reserviert haben, da sie über lange Zeit Gäste sind und durch mustergültiges Verhalten diesen besonderen Status erreicht haben. Danach rufen wir dann der Reihe nach jeden Namen von der Liste laut auf und checken die anderen 135 Gäste nach und nach ein.
Während der "Öffnungszeremonie" bieten wir jedem Gast (Männer und Frauen) im Haus etwas zu Essen und zu Trinken an und ermöglichen zusätzlich Duschen und andere kleine (aber feine) Services, wie zum Beispiel Hygieneartikel oder andere Spenden.
Wenn das getan ist, beginnen die eigentlichen Schichten, in denen die volunteers die Nacht über unsere schlafenden Gäste überschauen und das "Mädchen für alles" spielen, bis dann morgens um 6.30Uhr jeder wieder das Haus verlassen muss und ein neuer Tag mit ähnlichem Ausgang anbricht.
Für mich persönlich waren die Nachtschichten nie eine wirkliche Belastung, da man ja die ganze (bzw. halbe) Nacht nur an einem einsamen Schreibtisch in mitten der Schlafenden sitzt und nicht wirklich beansprucht wird. Doch manchmal ist man körperlich einfach nicht in der Lage, mitten in der Nacht zum Arbeiten aufzustehen und dann wird es eine schöne Quälerei.

Neben Aufgaben wie "Leute-Wecken", Klamotten austeilen und Spätankömmlinge einlassen, stehen auch ein paar papiertechnische Finessen auf dem Plan, was man aber ohne mit der Wimper zu zucken in 30 Minuten erledigt hat. Die Kleidungsausgabe ist dann eigentlich immer noch der Höhepunkt einer jeden Nacht gewesen, denn jeder Gast hat die Möglichkeit, während der Öffnung am Schreibtisch nach Kleidung zu fragen und einer von uns bringt dann die gewünschte Ware (wenn in unserm Spendenraum vorrätig) zum Bett des Gastes.
Im Großen und Ganzen waren die Nächte schon eher ruhig und gelassen und die einzige Problematik war der Schlaf, gegen den man ankämpfen musste, doch manchmal kam es auch ganz anders:
Wenn zum Beispiel jemand blutüberströmt durch den Schlafsaal rennt, weil ein anderer ihn mit einem Teppichmesser aufgeschnitten hat, oder wenn man einen Kontrollgang durchs Badezimmer macht und man findet jemand mit einer Nadel im Arm völlig bewusstlos auf dem Toilettenboden liegen, dann fragt man sich schon mal wieder: wo bin ich denn hier gelandet?!? Doch trotz alledem (und noch vielem, vielem mehr) hab ich mich in diesem Jahr nie unsicher gefühlt, da die Leute, die mit uns arbeiten, wie zum Beispiel unser "Nacht-Supervisor", (angestellte Person der FOA) oder unsere "Crew-Member" (Obdachlose, die bei uns schlafen und mit uns arbeiten) ein völlig souveränes Umfeld gestalten, in dem Zwischenfälle mit Leichtigkeit kompensiert werden und in absoluten Notfällen nie versagt wird, denn das schlimmste was passieren kann ist ein ausbrechendes Chaos zwischen unseren 250 Obdachlosen. Der "Nacht-Supervisor" ist jede zweite Nacht eine andere Person der FOA, welche die Nacht durch verantwortlich ist und für Notfälle zu rufen ist, doch meistens die ganze Nacht durchschläft. Kam es doch einmal zu Komplikationen, sind auch die Police und das Krankenhaus (welches sich beides gleich die Straße hinunter befindet) zu unsern besten Freunden und Helfern geworden, denn mit stark betrunkenen, oder gar Drogen voll gepumpten Vandalen ist nicht leicht Kirschenessen.
Wenn dann am Morgen der letzte Gast pünktlich um 6.30Uhr das Gebäude verlässt, stehen dann wieder einige Aufgaben für das unausgeschlafene volunteer Volk an: Neben so genannten "runs" (Abholungen), bei denen wir schon mal den ganzen Tag auf Achse sind, um Spenden in der ganzen Stadt verteilt einzusammeln, steht die Büroarbeit (bzw. Rezeptionsarbeit) im Vordergrund. Prägend bei dieser Arbeit war, dass man immer mit dem Unfassbaren rechnen sollte und sich auf vielfältige Weise engagieren muss. So bilden die volunteers den Dreh- und Angelpunkt des shelters. Im Haus befinden sich außerhalb der nächtlichen Öffnungszeiten (also nach 6.30Uhr bis 20.30Uhr) Sozialarbeiter, die sich jeweils mit ein paar unserer Gäste beschäftigen und ihnen Hilfe und Beistand bei alltäglichen Problematiken bieten, um sie vielleicht doch von der Straße zu bringen. Manchmal klappt dies auch und ein Gast darf in ein subventioniertes Wohnviertel ziehen und kann endlich wieder etwas auf seine eigene Beine stellen, doch mindestens 70% dieser Gäste schaffen es in unmittelbarer Zeit gleich wieder zurück ins shelter und verlieren ihr hart erkämpftes Ziel. An solchen Einzelfällen kann man dann auch sehr gut sehen, dass Obdachlosigkeit mehr ist, als nur kein Dach über dem Kopf zu haben. Viele, bzw. alle unserer Gäste haben in ihrem Leben viel durchmachen müssen, oder waren gar im Krieg und kämpfen somit im Unterbewusstsein alle eigentlich erst einmal gegen sich selbst, anstatt gegen ihre Obdachlosigkeit.
Es macht mich immer wieder aufs Neue traurig, da ich die Geschichte von vielen unserer Leuten kenne und mit ansehen muss, wie jeder auf seine persönliche Art und Weise mit seinem ganz individuellen Problem nicht zu Recht kommt und als Konsequenz dann meistens versucht, seine Sorgen auf anderen Wegen aus der Welt zu schaffen oder zu verdrängen. Dies ist auch einer der Gründe, weswegen wir jede Nacht ein paar Leuten den Eintritt verweigern mussten, denn ein Großteil unserer Gäste greift zu mindestens einem Zeitpunkt am Tag zu irgendwelchen Drogen (meistens Alkohol und Crack) in der Hoffnung, das Leben etwas schöner zu machen und fällt somit durch unser Sieb, denn Drogen sind ein "Big NO" im shelter. Wobei wir allerdings auch realisieren, dass wir wahrscheinlich nur 50% an Betten vergeben könnten, würden wir Drogentests bei der Öffnung durchführen lassen. Auf der anderen Seite aber legen wir unser Augenmerk dann natürlich auf potentielle Gefahrentypen, also Leute, die zum Beispiel richtig betrunken wirken, oder für Aufregung sorgen.
Während der Nacht passiert es dann aber schon mal, dass irgendjemand im Haus etwas seinem System hinzufügt und dann völlig bewusstlos auf dem Badezimmerboden (denn dort ist Licht) liegt. Solche Events sind aber eigentlich die wirkliche Ausnahme gewesen und wenn mal etwas derartiges passiert ist, war der Krankenwagen unser bester Ansprechpartner.

Alles in allem war dieses Jahr schon mit vielen Überraschungen bestückt und es hat auch Spaß gemacht Teil der Franciscan Outreach Association zu sein. Die Organisation selber hat sich in dem einen Jahr (das ich da war) auch so einigen Problematiken stellen müssen und meines Erachtens nach sich auch ein wenig zum Positiven weiterentwickelt.
Es gab gleich zu Beginn des Winters (2005) eine Zeit, in der drei von fünf shelter-volunteers das Schiff verlassen haben und somit nur noch Janis und meine Person gearbeitet haben, was auf Dauer natürlich niemals gegangen wäre. Zuerst hat es aber auf uns den Anschein gemacht, als wäre das Engagement für die Rekrutierung neuer volunteers eher ein Schuss in den Ofen und dass solange wir täglich öffnen können ja alles in Ordnung ist. Dies war eine wahnsinnig intensive Zeit, denn wir waren teilweise auf die freiwillige Mitarbeit mancher unserer Obdachlosen angewiesen und die Arbeitsqualität ist ein bisschen in den Hintergrund geraten. Doch als wir langsam wieder Arbeiter bekommen haben, ging es steil bergauf und alles hat sich wieder normalisiert, bis der nächste Schock vor der Türe stand. Im März des Jahres 2006 ist unser Chef (Programm Manager), Freund und Vaterfigur Raymond Marsh gestorben und hat ein riesiges Loch zum einen in unser aller Herzen und zum anderen in der Organisation hinterlassen. Raymond war ein "kid of the hood", also ein Mensch, der sich in dieser Umgebung und somit auch diesem Milieu von Kindesalter an auskannte und unsere 100%ige Versicherung für Sicherheit war, denn niemand hatte und wird jemals so eine Verbindung zu den Gästen aufbauen können.
Schade war auch hier, dass dieser Verlust wie eine klaffende Wunde für die Organisation war, denn in den nächsten Monaten danach wurde niemand eingestellt, sondern es wurde vielmehr auf vorhandenes Personal zurückgegriffen. Wieder einmal durfte "Father Larry" (den ich bisher noch nicht erwähnt habe, der allerdings Oberhaupt = "Executive Director" der FOA ist) seine Arbeitsmoral unter Beweis stellen und anstatt jemandem anderen das Vertrauen für die Arbeit zu geben, ist er lieber selber eingesprungen und war somit auch fast so oft im Einsatz wie die volunteers. Father Larry war auch der erste Ansprechpartner für uns volunteers im shelter und weil er eigentlich viel zu viel um die Ohren hatte, waren wir volunteers oft auf uns allein gestellt, hatten aber somit auch viele Freiheiten.
Das Ganze war am Marquard Center (der Suppenküche) schon ein bisschen anders, denn dort hat "Father Manny" wie ein Hirte über seine Schäfchen gehütet und jedem ein bisschen auf die Hände geschaut.
Allerdings ist jetzt gerade (Stand Juli 2006) alles im Wandel:
Der Hauptplan der Organisation ist jetzt neben den Diensten für die Gäste, die volunteers alle (also auch die eigentlichen shelter volunteers) in der Suppenküche einzuquartieren um dadurch eine große Wohn- und Arbeitsgemeinschaft zu bilden. Nach diesem Prinzip arbeitet dann auch jeder volunteer im jeweiligen Team eingeteilt an beiden Plätzen.
Ich bin durchaus gespannt, wie dies endet und wie sich die neuen Freiwilligen einbringen können.
Abschließend möchte ich noch sagen, dass dieses Jahr eine unheimlich wichtige Erfahrung für mich war und dass ich es trotz der vielen Arbeit genossen habe, in Chicago zu sein. Auch die FOA hat es mir leicht gemacht mich wohl zu fühlen und ich hoffe, dass die nächsten full-time volunteers eine ähnlich gute Zeit haben.


Sincerely,

Philip

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