Erfahrungsbericht Indien

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Land
Indien
Träger
VoluNation
Freiwillige/r
Bianca L

Education Center in Delhi

Mein erster Kontakt mit der wundervollen Kultur Indiens war, als ich acht Jahre alt war und ein Fernsehsender Bollywood-Filme mit Shah Rukh Khan ausstrahlte. Jedes Jahr aufs Neue wartete ich auf den September, der mich jeden Samstag mit seinen Filmen für ganze 4 Stunden beglückte, manchmal sogar an meinem Geburtstag und so kam ich zu dem Entschluss, dass ich eines Tages dieses wundervolle Land selber bereisen und entdecken werde. Als ich über die Jahre älter wurde, wurde mir auch bewusst, dass Indien nicht ganz so ist, wie man es in diesen wunderschönen Filme zeigt, doch das sollte mich nicht aufhalten - im Gegenteil, es erweckte die Neugier in mir. Wenn es nicht so ist, dann wie?



Wenn mir jemand früher gesagt hätte, dass ich mit 18 als Freiwillige nach Indien reise und mir damit einen meiner Kindheitsträume erfülle, hätte ich ihm wahrscheinlich den Vogel gezeigt; absurd. Doch genau so kam es. Nachdem ich mein Abitur mit 17 hatte und wie jeder andere Abiturient vor der Frage ”Was jetzt?” stand, entschied ich mich kurzer Hand, das Jahr frei zu nehmen, um zu reisen und halbtags in der Nachmittagsbetreuung meiner Schule zu arbeiten. Kinder, so habe ich entdeckt, sind mein Lebensglück.

Als ich dann 18 wurde, standen mir plötzlich alle Türen offen und so wagte ich es, mir diese Reise so lange zu erträumen und vorzustellen, bis ich den Mut zusammenhatte, mich zu erkundigen, es zu planen und letztendlich das Abenteuer anzutreten. Und auf einmal, nachdem man sich geimpft hatte und das Visum bestätigt war und man irgendwie versucht hat, sich kulturell einzustellen, war der Tag der Reise da. Ich lebe in Finnland und bin über Deutschland geflogen, und hatte zu meiner Überraschung den so genannten ”Kulturschock” am Münchener Flughafen beim Terminalwechsel. Plötzlich war ich diejenige, die nicht ins Bild passte und ich war die Fremde, die sich nicht zu kleiden oder zu verständigen wusste. In diesem Moment meldete sich die Angst tief in mir und ich dachte bloß ”In was hast du dich denn da bloß wieder reingeritten?”

Das ist aber normal, und der leichteste Weg aus der Angst ist, sie durch Neugier zu ersetzen, denn du kannst keine Angst vor etwas haben, das du kennst und verstehst; und so fing ich ein Gespräch mit meinem Sitznachbarn an und befragte ihn über seine Kultur, über Sachen, die ich vermeiden oder beachten sollte, über die Einstellung Lehrern gegenüber, über die Natur, über was auch immer mir in den Kopf kam und zurück bekam ich eine Welle von Informationen, Stolz und Liebe für sein Land. Sanjay, so hieß er, erzählte mir, dass jeder Inder sein Land vermisst, wenn er es einmal verlässt, weil es ein Land der Extreme ist, in dem man alles findet, egal ob klimatisch, landschaftlich, kulinarisch, kulturell. Indien ist so reich in dem Sinne, sagte er, dass man gar nicht anders kann, als es zu vermissen. Auch sagte er mir, dass man Jahre, wenn nicht ein ganzes oder mehrere Leben brauchen würde, um sein Land zu entdecken. Ich hörte mir all dies an und versuchte mir ein Bild zu machen, doch wie sich später herausstellen würde, konnte es dem Land nicht annähernd gerecht werden. Ich verstand es alles nicht, sah es alles als seine Liebe für sein Land; ich selber bin seit etwas über zwei Monaten wieder zuhause, und es geht kein Tag vorüber, an dem ich nicht an mein wunderbares Indien denke. Wie Recht Sanjay doch hatte.

Ich kam in Delhi an und fand sehr schnell heraus, dass alles dort hektischer, lauter und voller war. Doch es störte mich nicht, denn es waren alles Zeichen von Leben. Etwas, was ich sehr an Indien und seiner Bevölkerung schätze, ist, dass sie laut sind, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nach dem Motto. ”Hey, ich bin hier, nimm mich wahr” und nicht, wie es zu oft der Fall in Europa ist ”Hey, ich bin hier, du stehst mir im Weg.” Die Luft war trockener und staubiger, verglichen mit der Luft hier in Finnland, aber es störte mich kaum, denn es gab so vieles Neues, da hatte man gar keine Zeit, sich über irgendetwas zu beschweren oder aufzuregen. Die Straßen waren schmutziger und gefüllt mit Menschen, alles Zeichen von Leben. Die Märkte waren laut, gefüllt mit Stoffen, Gewürzen, Schmuck, Klamotten, Inneneinrichtungsstücken, Musik, Gelächter, Gerüchen und es ist nützlich, wenn du weißt, wie man verhandelt. Die Menschen sind immer an dir interessiert, du fällst auf, egal ob du dich anpasst oder nicht. Als ausländische Frau wirst du immer angestarrt, versuche dein Bestes, um dich anzupassen; ich war meistens mit anderen Freiwilligen unterwegs, fühlte mich aber keineswegs unsicher, wenn ich mal alleine zum Markt gegangen oder mit der Rikscha gefahren bin. Wenn du dir die Zeit nehmen kannst, dann lerne ein paar Sätze auf Hindi, Inder werden dich besser aufnehmen, fairere Preise und freundlichere Ausdrücke von sich geben, denn du bist nicht mehr so fremd, wie du erscheinst.

Die Landschaft, die ich durch Ausflüge auch zu Gesicht bekommen habe, ist atemberaubend. Ich bin nach Jaipur gereist, eine sechsstündige Autofahrt, in der die Landschaft von Großstadt zu Feldern zu Blumenfeldern auf trockenem Sand zu Hügeln und Bergen und zwischendurch sogar zu Wäldern wechselte. Die Tempel sind groß, abends immer mit Lichterketten beleuchtet und mit Blumen dekoriert. Ich bin jedes Wochenende zu einem Krishna-Tempel in der Nähe von unserem Apartment gegangen, um den Geruch der Räucherstäbchen zusammen mit der rhythmischen Musik, Tanz und Klatschen aufzunehmen, nichts ist jemals richtig still in Indien. Das Essen, welches jeden Tag gleich aussah, schmeckte jeden Tag anders. Die unterschiedlichsten Gewürze in der kleinsten Portion können so einen Unterschied machen, trau dich und frag jemanden, dir das Kochen beizubringen, es ist eine wunderbare Welt dort. Ich habe gelernt, Brot in der Pfanne zu machen.

Ich war leider nur einen Monat in Delhi, wenn du es dir leisten kannst, dann nimm dir Zeit. Du wirst es ganz bestimmt nicht bereuen, für dieses Land braucht man mindestens ein ganzes Leben. Gelebt habe ich in Süd-Neu Delhi mit anderen Freiwilligen. Ich arbeitete in einem ”Education Center”, welches in einem Slum aufgebaut war. Sie hatten dort mehrere Gruppen und an meinem ersten Tag bin ich durch alle durchgegangen und habe zwei Gruppen gefunden, mit denen ich am besten klarkam. Das Alter ging von 3 Jahren hoch bis zu 17. Morgens hatte ich eine Gruppe Jungs, die zwischen 12 und 17 Jahren alt waren und am Nachmittag, nach dem Essen, hatte ich eine Gruppe von Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren. Ich hatte viele Gespräche mit den anderen Lehrkräften dort und verkürzte meine Mittagspause um eine Stunde, um dem Mathelehrer mit seinem Englisch zu helfen.

Mein gewöhnlicher Tagesablauf während der Woche sah ungefähr so aus: 8.30 Uhr Frühstück, um spätestens 10 Uhr die Wohnung verlassen und mit der Rikscha zum Education Center fahren, von 10.30 bis 11.30 oder 12 Uhr den Jungs englische Grammatik beibringen, von 12 bis 14 Uhr Mittagspause, ab 14 Uhr den Mädchen bis 16 Uhr englische Grammatik beibringen und dann konnten wir zurück oder durch Märkte oder Sightseeing gehen, je nach Lust und Laune und um 18 Uhr war dann Abendessen im Apartment.

Am Wochenende konnte man längere Ausflüge machen. Ich bin nach Agra gegangen, um den Taj Mahal zu sehen und nach Jaipur, die Hauptstadt des Staates Rajasthan. Es gab auch andere Ausflüge, die dann bis zu vier Tage lang waren, aber das war für mich eine zu lange Zeit, in der ich mich von meinen Kindern hätte trennen müssen, dafür, dass ich nur einen Monat da war. Jaipur war ein echt toller Ausflug, auf dem wir top versorgt worden sind. Wir hatten einen Fahrer, der uns von Delhi nach Jaipur gefahren hat und dann auch zu jeder Sehenswürdigkeit. Wir hatten auch einen Touristenführer, der uns alles gezeigt und genauestens erklärt hat. Abends waren wir dann in einem traditionellen Park mit Tanz und Essen und Handlesern und Magiern und die Nacht haben wir in einem 3-Sterne-Hotel verbracht, das mehr als 3 Sterne verdient hatte.

Das Beste an allem für mich jedoch waren die Kinder. In der Sekunde, in der ich den Raum betreten hatte, hatte ich auch mein Herz an sie verloren, es geht gar nicht anders. Sie sind so gefüllt mit Liebe und Akzeptanz für dich und einer Neugier für deinen Hintergrund und dein Leben und deine Erlebnisse, aber was sie am meisten haben, ist die Liebe fürs Leben. Ich habe bei mir zuhause an unterschiedlichen Schulen und Kindergärten ausgeholfen und selten so eine Liebe und Lust fürs Leben gesehen, wie sie die Kinder in Indien haben. Ich finde es bemerkens- und bewundernswert, wie sie so viel Freude in sich haben können, trotz ihrer Schicksale und Situationen. Jeder Tag, den ich in diesem Slum mit den Kindern verbracht habe, lachend und klatschend und lesend und rufend und, ja, manchmal auch müde und frustriert, war einer der erfüllendsten und kostbarsten Tage meines ganzen Lebens. Sie haben mich gefüllt mit Liebe und Geduld und Hoffnung und Zuversicht und Dankbarkeit. Unglaublicher Dankbarkeit.



Als ich mich nach vier Wochen von meinen 40 Kindern verabschieden musste, dachte ich zuerst, dass ich das nicht überlebe. Meine Jungs übernahmen meine Stunde und verbrachten sie damit, Karten für mich zu basteln und mir Witze zu erzählen und zu lachen und dann tanzten sie für mich. Es scheint so, dass jeder Inder tanzen kann, es ist in ihnen. Meine Mädchen wollten unser Lieblingswortspiel ”Hangman” spielen, auch sie gaben mir Karten und sangen für mich und kochten sogar etwas kleines. Der Abschied war sehr schwer und ich habe geweint, welches ich schnell versucht habe zu unterdrücken, weil es sie verwirrt hatte. In Indien ist es etwas Gutes, ein Fest, wieder nach Hause zu seiner Familie zu kehren und sie verstanden zuerst nicht, weshalb ich weinte, bis wir dann gemeinsam weinten und uns immer gegenseitig sagten ”No, no crying! Just smiling!”.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine chaotischen Jungs denke oder an meine Mädchen, die Ärzte, Lehrer, Anwälte und Tänzer werden wollen. Ich habe immer noch Kontakt mit den Lehrern dort, die mir immer ab und zu erzählen, wie es den Kindern geht.

Mein Ratschlag an dich ist, so viel Zeit und Liebe und Offenheit mit dir zu nehmen, wie du kannst. Vielleicht wirst du nicht ganz so an den Kindern hängen, wie ich es tue, oder vielleicht wird es noch stärker für dich sein als es für mich war, wer weiß. Das einzige, was ich weiß, ist, dass du es nicht bereuen werden kannst. Wenn du mit Offenheit, Ehrlichkeit und Fleiß hingehst, dann wirst du mit etwas viel Kostbarerem belohnt als einem Zertifikat oder einer Reise in ein fremdes Land mit einer fremden Kultur. Du wirst überschüttet werden mit Liebe und Offenheit und Neugier und Akzeptanz und Enthusiasmus und Dankbarkeit. Sie werden dir beibringen, ruhig zu sein, auch wenn du dich aufregen willst. Sie werden dich dazu bringen, klar unter Zeitdruck zu denken. Sie werden dich kreativ ankurbeln. Doch am allermeisten werden sie das kindliche Lachen aus dir herauskitzeln, welches wir heutzutage viel zu leicht vergessen haben. Also geh mit Offenheit, Zeit, wenn du sie hast, und Liebe, und wenn sich doch einmal die Angst oder Panik bei dir einschleichen sollte, so bekämpfe sie mit Neugier.

Zuletzt noch eine Bitte, wenn du mit Kindern arbeitest, egal ob es nun meine sein werden oder andere, egal ob Indien oder Südamerika; öffne dich ihnen. Höre ihnen zu, richtig zu, auch wenn sie von Einhörnern oder fremden Göttern sprechen. Erzähle ihnen Geschichten und Witze. Zwinkere ihnen zu und lache. Schaffe diese so genannten ”Insider”-Sprüche mit ihnen. Gib ihnen dein Vertrauen und sie geben dir ihres zusammen mit Liebe und Dankbarkeit, denn so gibst du ihnen Hoffnung.

Danke, dass du meinen Bericht gelesen hast, ich hoffe, er hat dir geholfen, Fragen beantwortet und ich hoffe, dass du eine wunderbare Erfahrung haben wirst, egal wo dich deine Wege hinführen werden.


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