Erfahrungsbericht Frankreich
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- Frankreich
- Träger
- EIRENE International
- Freiwillige/r
- anonym
Arche Lanza del Vasto
Salut liebe Rundbrief-Empfänger,
die Welt hier zieht mich so in den Bann, dass ich fast vergessen hätte, meinen ersten Rundbrief zu schreiben.
Die nächste Stadt, in die man einmal im Monat kommt, ist eine halbstündige Autofahrt entfernt. Erst bei meinem Heimaturlaub, Anfang Januar, stieß ich auf die vielen Rundbriefe anderer EIRENE- Freiwilliger, dass hat mich dann auf den Plan gerufen.......
Eine Republik außerhalb von Raum und Zeit
In Südwestfrankreich, nicht weit entfernt von Montpellier in Richtung der kargen Hochplateaus des Languedocs, zweigt von der Hauptstrasse, gleich nach dem kleinen Städtchen Lod?ve, ein kleines Sträßchen ab. Es schlängelt sich an steilen Abhängen vorbei, sowie durch lichte Wälder, bis man in ein kleines Tal von ca. 450 ha kommt - hier liegt die Gemeinschaft La Borie Noble.
In der Tat liegt jene in Frankreich, jedoch ist sie in gewisser Weise weder in Frankreich, noch in einem anderen Land, das auf heutigen Landkarten existiert. Es ist eine unabhängige Republik, außerhalb von Raum und Zeit. In der Mitte von einem industrialisierten, technologisierten und urbanisierten Europa, ist eine friedliche Insel, die von einem Filmset des 19. Jahrhunderts sein könnte. Ein Regisseur, der sich ein derartiges Set wünschen würde, hätte wenig Probleme, mit Requisiten und Kulisse. Die einfachen Steinhäuser, die Möbel gefertigt aus rustikalem Holz, die Tonwaren, die Scheune, mit in Strohballen steckenden Heugabeln, das Waschhaus, mit den hölzernen Trögen zum Wäsche einweichen und dem großen Kessel zum Wasser erhitzen, dem Stall, mit den sieben Pferden, die darauf warten, verschiedene Arbeiten zu verrichten. Alles ist auf seinem Platz in der Borie Noble, als ob jede Minute jemand "Action" rufen wird, die Darsteller werden auftreten und die Aufnahmen beginnen.
Ankunft in offene Arme
Eine Woche verspätet, aufgrund der Operation an meinem Nagelbett, wurde ich in der Borie mit offenen Armen empfangen. Sehnlichst wartete man darauf, dass ich die Arbeit des Käsers übernehmen würde.
Am Tisch der Court- und Longue-Stag?res (Kurz- und Langzeitpraktikanten) bin ich mit Offenheit und Freundlichkeit aufgenommen worden. Zu Beginn musste ich mich erst daran gewöhnen, dass man neben Französisch häufig Englisch sprach. Bis endlich klar war, mit wem in der Gemeinschaft ich mich wie unterhalte, bin ich die ersten Wochen jeden Abend erschöpft ins Bett gesunken. Durch die allgemein lockere Atmosphäre fiel mir der Einstieg trotz französischer Sprachprobleme relativ leicht.
Das kleine Einmaleins des Käsens
.....ist mir in einer Woche beigebracht worden. Danach überließ man die Käserei weitgehendst meiner Verantwortung - was ich doch sehr mutig fand. Als Käser der Communaut? ist es meine Aufgabe, die 60 - 90 Liter frisch gemolkene Milch in Hartkäse, Frischkäse, Joghurt, Quark und Butter zu verarbeiten. Die Fromagerie ist winzig klein und zu zweit steht immer einer im Weg. Sie befindet sich im Untergeschoss eines am Hang liegenden Wohnhauses, halb im Fels. Jetzt zur Winterzeit ist es etwas düster, so dass ich meistens bei Kerzenlicht arbeiten muss. Wie ich den Käse herstelle, es mit der Hygiene halte, allgemein in der Käserei wirtschafte, wird nicht kontrolliert. Feedback bekomme ich erst, wenn ich den Käse zu Essen serviere. Hartkäse benötigt 3 Monate zur Reifung. Das macht es schwierig Veränderungen vorzunehmen, denn wenn ich neue Produktionsmethoden ausprobiere, weiß ich erst nach drei Monaten, ob sich die Qualität des Hartkäses dadurch verbessert hat.
Nach einiger Zeit war mir klar, die Käserei muss dringend renoviert werden! Die Wände waren mit Hefepilzen befallen, eine Mauer zur Hälfte eingestürzt, überall lagen alte unnütze Gerätschaften herum und zu alledem litt die Lagerhöhle unter chronischem Pilzbefall. Ein ganzes Jahr wollte ich bestimmt nicht unter diesen Umständen arbeiten. Ich begann mit Jean-Phillippe, einem anderen Longuestag?re, die Käserei zu streichen, entrümpeln, die Türen zu reparieren etc. Gleichzeitig tauche ich in die Welt der Molekularstrukturen von Milch und Gärprozesse ein, indem ich Bücher wie "Käsen leicht gemacht" oder "Schweizer Käsereitechnik von 1983" zu lesen anfing.
Verlorenes Wissen und unerwartete Meister
Das Käsereiwissen in der Borie Noble wird von Käser zu Käser - die meistens nicht länger als ein Jahr bleiben - weitergegeben. Mit viel Optimismus verlässt sich die Gemeinschaft darauf. Leider geht bei den alljährlichen Wechseln viel Wissen verloren. Als ich z.B. Probleme mit Pilzbefall in der Käserei hatte, konnte mir niemand wirklich weiterhelfen. Ich war auf mich allein gestellt. Ich hatte das Glück, dass in den letzten Monaten einige Käser vorbeikamen. Mark, Besitzer einer belgischen Käserei; Lionel, Öko-Bauer mit eigener Hofkäserei; Lia hatte vier Jahre auf einer Schweizer Alm gekäst und Silvia war Molkereifachlehrling. Durch den Austausch und die Arbeit mit ihnen, sowie den wertvollen Tipps aus den verschiedensten Bereichen der Käseproduktion konnte ich große Fortschritte machen. Jetzt observiere ich nach verschiedenen Faktoren, wie Säuregehalt von Milch und Molke, den verschiedenen Temperaturen im Fertigungsprozess und anderes mehr die Produktion und Reifung. Mit den gewonnenen Erkenntnissen kann ich gezielter Experimente durchführen und versuchen, eine Herstellung auf einem qualitativ guten und konstanten Niveau zu garantieren. Das Kreieren und Experimentieren macht mir viel Spaß - die andere Seite der Selbstverantwortung!
Ein Tag in der Borie Noble
6.45 Uhr
Plötzlich ertönt ein metallischer schwerer Klang aus dem Herzen eines grünen und verschlafenen Tales, welches noch in leichten Morgennebel getaucht ist. Die große Turmglocke läutete die letzten 40 Jahre. Der Klang hallt über die grünen Grasflächen, über die 450 ha, die der Gemeinschaft gehören.
7.00 Uhr
Ich ziehe noch einmal an der Glockenschnur. Einmal in der Woche gehört dies, einschließlich dem Frühstück zubereiten und dem Feuer machen, zu meinen Aufgaben in der Gemeinschaft. Ich entzünde das Feuer in der Hauptküche, während lautlos einige Gestalten an mir vorbeiziehen, eingehüllt in wollene Gewänder, mit Kerzen in der Hand, auf dem Weg in den Gemeinschaftssaal. Sie setzen sich nieder und beginnen den Tag mit einer Meditation.
7.30 Uhr
Wenn ich den Tisch gedeckt habe, mit Keramikfrühstücksschalen, Kannen mit Tee, einem Topf heißer Milch, läute ich die Glocke ein drittes Mal. Die Meditierenden erheben sich und lockern ihre Glieder. Es wird gefrühstückt.
8.30 Uhr
In der Hauptküche wird das Frühstück abgeräumt und Kisten mit frischem Gemüse, aus dem eigenen Garten, werden auf den Tisch gestellt. Das ist die Stunde der Epluchage (Schälen).
Jeden Tag kocht ein anderer. Alle 1 ? Monate darf ich für 20 - 40 Personen kochen. Auch nicht gerade etwas, was ich gelernt habe. Zu Beginn war ich leicht überfordert, da man zu allem Überfluss das Abendessen und Mittagessen zugleich kocht. Es geht hier nicht um mir bekannte Mengen wie zum Beispiel einen halben Liter Soße - hier geht es um 6-8 Liter!!
Epluchage ist für mich die Zeit, in der Käserei mit der Arbeit zu beginnen.
9.30 Uhr
Beim erneuten Glockenschlag kommen die Bewohner der Borie, einige in Wollmänteln, andere in normaler Kleidung, zusammen zum morgentlichen Gebet. Heute ist Mittwoch, und wie jeden Mittwoch ist das Gebet den "Wahrheitssuchenden" gewidmet, jenen, die nicht einer bestimmten Religion angehören, aber nach einem eigenen spirituellen Weg suchen.
Bei den sonstigen Morgengebeten wird das Gebet einer anderen Religion gewidmet: dem Hinduismus, dem Islam, dem Budismus, dem Judentum, dem Katholizismus und dem nicht katholischen Christentum. Dementsprechend wird jedes mal ein Text gelesen. Heute z.B.
Wird ein kurzer Text aus der Krishnamurti (hinduistisches Gebetbuch) gelesen. Ein kurzes Lied gesungen, gefolgt von Küssen auf die Wangen und einem "Bonjour" zur Linken und zur Rechten. Schlussendlich werden die heute anstehenden Arbeiten besprochen und verteilt.
10.30
Die Glocke erschallt und in der Küche legt der Koch seinen großen Holzlöffel beiseite, im Wald legt der Holzfäller seine Axt zur Seite, auf dem Feld hält der Landwirt seine Pferde an und lockert das Geschirr. In der Töpferei stehen die Töpfereiräder still, in der Tischlerei verstummen die Sägen und Hämmer. Dazwischen erheben sich die Gärtner erleichternd die Glieder streckend vom Boden. Dies ist der "Rappel" ( ..die Erinnerung an..), eine Art Kurzmeditation. Zweck dieses Rappels ist es, die Hektik und Geschäftigkeit für den Moment eines tiefen Atemzuges von der Spannung zu lösen und "gegenwärtig in der Gegenwart sein". Von jetzt an bis zum Ende des Tages wird die Glocke jede volle Stunde zum " Rappel" läuten. Für ein oder zwei Minuten wird das Tal von einer beneidenswerten Ruhe erfüllt und die Stimmen der anderen Bewohner, der Vögel, des durch die Bäume wehenden Windes und des nahen Flusses werden zu hören sein.
13.30
Die Glocke schlägt zum Mittagessen. Im Gegensatz zum Frühstück und Abendessen, wird das große Essen des Tages mit der ganzen Gemeinschaft geteilt. Bei schönem Wetter unter dem Kastanienbaum, bei schlechtem Wetter in der Gemeinschaftshalle. Die Atmosphäre eines gemeinschaftlichen Essens hat immer etwas Festliches (und nicht nur am Sonntag, wenn alle in weiß gekleidet sind und auf dem Menü Nudeln und Wein stehen). Alle Michprodukte, das Brot und das vielfältige Gemüse auf dem Tisch sind "hausgemacht"! und von Anfang bis Ende in der Reinheit von organisch vegetarischem Essen. Jeder singt "Halleluja" zweistimmig, segnet das Brot und isst.
14.30 Uhr
Nach einer kurzen Mittagspause zurück zur Arbeit in den Garten, in den Wald, in die Küche, in die Käserei. Nachmittags wird ungefähr drei Stunden gearbeitet. Das abendliche Melken der Kühe beendet den Arbeitstag. Wenn die Eimer gefüllt mit frischer warmer Milch in die Molkerei gebracht worden sind und die Kühe wieder auf die Weide gelassen werden - dann ist die Arbeit zu Ende.
18.30Uhr
Abendmeditation
19.00 Uhr
Abendessen
20.30 Uhr
Für das Abendgebet nehmen wir uns an den Händen und bilden einen Kreis. Jemand entzündet ein kleines Lagerfeuer in der Mitte. Die Flammen züngeln durch die Zweige.
Rund um tragen die Anwesenden das "Gebet des Feuers" vor, ein philosophisch poetischer Text von Lanza del Vasto geschrieben. Dann ein wunderschöner Text von St. Francis und im Anschluss daran eines der sieben Gelübde der "Arche" (jeden Tag ein anderes). Dies ist der Zeitpunkt der Ruhe. Zeit für ein persönliches Gebet (laut oder in Gedanken), Zeit sich von den Flammen hypnotisieren zu lassen, Zeit mit den Augen die ersten Sterne zu suchen.
Ein zweistimmiger Choral erklingt. Zum Abschluss fragt derjenige, der an diesem Tag das Gebet leitet, ob es Bekanntmachungen gibt. Danach beendet er das Zusammenkommen mit einem "Bonsoir".
Menschen in der Borie, um die Borie und um die Borie herum
In der Borie leben vier Familien mit jeweils zwei Kindern, eine alleinerziehende Mutter, ein Single und drei ältere Damen. Dazu kommen noch fünf Longuestag?res, das sind Praktikanten, die sich entschieden haben, für ein Jahr in der Borie zu leben. Zu etwa zwei Dritteln sind die Bewohner Franzosen, die anderen sind aus Deutschland, Kanada, der Schweiz, Ungarn und Belgien.
Die Longuestagres, eine feste Truppe, essen morgens und abends mit den Kurzstag?res in der großen Gemeinschaftsküche und führen diese dabei in das gemeinschaftliche Leben ein. Jetzt im Winter sind ca. 2 - 5 Kurzstag?res zu Besuch, jeweils für die Dauer von 1 Woche bis zu 1 Monat. Überwiegend handelt es sich um Franzosen, jedoch nicht wenige kommen aus ganz Europa und darüber hinaus. Hat man sich gestern mit einem amerikanischen Friedensaktivisten über die US-Wahlen unterhalten, wird man heute von einer israelischen Studentin gefragt, wie den jungen Menschen in Deutschland heutzutage die Verbrechen an den Juden beigebracht werden. Die Wandernden und Reisenden, mit ihren Geschichten und ihrer Lebenserfahrung geben den Abendessen immer wieder einen nicht nur kulinarischen sondern auch kulturellen Genuss.
In der Nähe der Borie liegen zwei weitere Gemeinschaften der "Arche" Bewegung - La Flayssi?re und Nogaret. Nogaret ist eine verlassene Gemeinschaft und wird nur zu Teilen bewohnt. Der Großteil der Gebäude dort dient als Tagungshaus für spirituelle und kunsthandwerkliche Kurse, wie Kalligraphie, etc. Im Mai wird dort das EIRENE-Zwischenseminar stattfinden. Mit Flayssi?re findet ein reger Austausch statt. Man besucht sich häufig und feiert Feste zusammen. Immer mal wieder tausche ich mich mit dem Käser dort aus, um dadurch von einander zu lernen.
Um die Borie herum gibt es noch eine Handvoll Dörfer, mit vornehmlich Schafzüchtern, die berühmte Roqufortkäserei mit Milch beliefern.
Die Jugendlichen von Roqueredonde, dem nächst gelegenen Dorf, kommen an den Wochenenden zum Ausreiten auf die Borie. Meistens reiten wir ohne Sattel durch die Hügel der Cevennen. Als ungeübter Reiter habe ich dann furchtbaren Muskelkater.
Vor einer Woche, bei einem Ausritt, als wir gerade über eine Hochebene galoppierten, tauchte ganz plötzlich vor unseren Pferden ein Elektrozaun auf. Swaty, mein Reitpferd, konnte ihn offensichtlich nicht sehen, da sie ihr Tempo nicht verlangsamte. In ihrer vollen Dynamik konnte ich sie nicht zum Stehen bringen. Indem ich eine scharfe Kurve ritt, wollte ich das Schlimmste verhindern. Für das Pferd hat die Lösung funktioniert, doch die Fliehkraft holte mich aus dem Sattel. Mit blauen Flecken und einer Hüftprellung hatte ich Glück.
Weihnachten in der Fremde
An Weihnachten füllte sich die Borie mit Verwandten, Bekannten und alten Freunden. Diesen Höhepunkt durfte ich natürlich nicht verpassen. Für mich ein ganz neues Erlebnis, fernab von der mir bekannten weihnachtlichen Stimmung.
Schon die vorweihnachtliche Zeit war etwas Besonderes. Jeder Adventssonntag wurde mit einem kleinen Fest zelebriert. Dabei wurde die Krippe Stück für Stück geschmückt, die Adventskerzen mit einem abendlichen Ritual angezündet, gegessen, musiziert und getanzt.
Am Heiligen Abend waren mehr als 50 Menschen in der Borie. Nach spirituellen Gesängen und einem Grippenspiel wurde die ganze Nacht getanzt - zu Live-Musik versteht sich! Der erste Weihnachtsfeiertag wurde einem mehrstündigen Mahl gewidmet, das begleitet wurde von Theater, Sketchen, Gesang und Musik. Nach einer ausgiebigen Siesta ging der Abend genauso weiter. Es war ein schönes und eindrucksvolles Weihnachtsfest. Trotzdem empfand ich es nicht ganz einfach fernab von meiner Familie zu sein. Ich habe mit einem lachenden und einem weinenden Auge gefeiert.
Ruhe und Kälte
Den Winter über ist es in der Borie sehr ruhig. Wenige Menschen kommen zu Besuch und ab und zu sind wir durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Chance für mich, die festen Bewohner der Borie besser kennen zu lernen. Die Arbeit allein in der dunklen und feuchten Käserei lassen mich die Zähne zusammenbeißen. Das Holzhacken wird zur täglichen Arbeit. Heizt man sein Zimmer nicht gut am Abend ein, weckt einen die Kälte in der Frühe unwillkürlich auf. Es ist die Zeit, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und am Ofen bei einem Pot Tee zu lesen. Es ist aber auch die Zeit, in der man anfängt vom Frühling zu träumnen.
Seid gespannt! ...
Auf bald, Salut,
Philip Palm
die Welt hier zieht mich so in den Bann, dass ich fast vergessen hätte, meinen ersten Rundbrief zu schreiben.
Die nächste Stadt, in die man einmal im Monat kommt, ist eine halbstündige Autofahrt entfernt. Erst bei meinem Heimaturlaub, Anfang Januar, stieß ich auf die vielen Rundbriefe anderer EIRENE- Freiwilliger, dass hat mich dann auf den Plan gerufen.......
Eine Republik außerhalb von Raum und Zeit
In Südwestfrankreich, nicht weit entfernt von Montpellier in Richtung der kargen Hochplateaus des Languedocs, zweigt von der Hauptstrasse, gleich nach dem kleinen Städtchen Lod?ve, ein kleines Sträßchen ab. Es schlängelt sich an steilen Abhängen vorbei, sowie durch lichte Wälder, bis man in ein kleines Tal von ca. 450 ha kommt - hier liegt die Gemeinschaft La Borie Noble.
In der Tat liegt jene in Frankreich, jedoch ist sie in gewisser Weise weder in Frankreich, noch in einem anderen Land, das auf heutigen Landkarten existiert. Es ist eine unabhängige Republik, außerhalb von Raum und Zeit. In der Mitte von einem industrialisierten, technologisierten und urbanisierten Europa, ist eine friedliche Insel, die von einem Filmset des 19. Jahrhunderts sein könnte. Ein Regisseur, der sich ein derartiges Set wünschen würde, hätte wenig Probleme, mit Requisiten und Kulisse. Die einfachen Steinhäuser, die Möbel gefertigt aus rustikalem Holz, die Tonwaren, die Scheune, mit in Strohballen steckenden Heugabeln, das Waschhaus, mit den hölzernen Trögen zum Wäsche einweichen und dem großen Kessel zum Wasser erhitzen, dem Stall, mit den sieben Pferden, die darauf warten, verschiedene Arbeiten zu verrichten. Alles ist auf seinem Platz in der Borie Noble, als ob jede Minute jemand "Action" rufen wird, die Darsteller werden auftreten und die Aufnahmen beginnen.
Ankunft in offene Arme
Eine Woche verspätet, aufgrund der Operation an meinem Nagelbett, wurde ich in der Borie mit offenen Armen empfangen. Sehnlichst wartete man darauf, dass ich die Arbeit des Käsers übernehmen würde.
Am Tisch der Court- und Longue-Stag?res (Kurz- und Langzeitpraktikanten) bin ich mit Offenheit und Freundlichkeit aufgenommen worden. Zu Beginn musste ich mich erst daran gewöhnen, dass man neben Französisch häufig Englisch sprach. Bis endlich klar war, mit wem in der Gemeinschaft ich mich wie unterhalte, bin ich die ersten Wochen jeden Abend erschöpft ins Bett gesunken. Durch die allgemein lockere Atmosphäre fiel mir der Einstieg trotz französischer Sprachprobleme relativ leicht.
Das kleine Einmaleins des Käsens
.....ist mir in einer Woche beigebracht worden. Danach überließ man die Käserei weitgehendst meiner Verantwortung - was ich doch sehr mutig fand. Als Käser der Communaut? ist es meine Aufgabe, die 60 - 90 Liter frisch gemolkene Milch in Hartkäse, Frischkäse, Joghurt, Quark und Butter zu verarbeiten. Die Fromagerie ist winzig klein und zu zweit steht immer einer im Weg. Sie befindet sich im Untergeschoss eines am Hang liegenden Wohnhauses, halb im Fels. Jetzt zur Winterzeit ist es etwas düster, so dass ich meistens bei Kerzenlicht arbeiten muss. Wie ich den Käse herstelle, es mit der Hygiene halte, allgemein in der Käserei wirtschafte, wird nicht kontrolliert. Feedback bekomme ich erst, wenn ich den Käse zu Essen serviere. Hartkäse benötigt 3 Monate zur Reifung. Das macht es schwierig Veränderungen vorzunehmen, denn wenn ich neue Produktionsmethoden ausprobiere, weiß ich erst nach drei Monaten, ob sich die Qualität des Hartkäses dadurch verbessert hat.
Nach einiger Zeit war mir klar, die Käserei muss dringend renoviert werden! Die Wände waren mit Hefepilzen befallen, eine Mauer zur Hälfte eingestürzt, überall lagen alte unnütze Gerätschaften herum und zu alledem litt die Lagerhöhle unter chronischem Pilzbefall. Ein ganzes Jahr wollte ich bestimmt nicht unter diesen Umständen arbeiten. Ich begann mit Jean-Phillippe, einem anderen Longuestag?re, die Käserei zu streichen, entrümpeln, die Türen zu reparieren etc. Gleichzeitig tauche ich in die Welt der Molekularstrukturen von Milch und Gärprozesse ein, indem ich Bücher wie "Käsen leicht gemacht" oder "Schweizer Käsereitechnik von 1983" zu lesen anfing.
Verlorenes Wissen und unerwartete Meister
Das Käsereiwissen in der Borie Noble wird von Käser zu Käser - die meistens nicht länger als ein Jahr bleiben - weitergegeben. Mit viel Optimismus verlässt sich die Gemeinschaft darauf. Leider geht bei den alljährlichen Wechseln viel Wissen verloren. Als ich z.B. Probleme mit Pilzbefall in der Käserei hatte, konnte mir niemand wirklich weiterhelfen. Ich war auf mich allein gestellt. Ich hatte das Glück, dass in den letzten Monaten einige Käser vorbeikamen. Mark, Besitzer einer belgischen Käserei; Lionel, Öko-Bauer mit eigener Hofkäserei; Lia hatte vier Jahre auf einer Schweizer Alm gekäst und Silvia war Molkereifachlehrling. Durch den Austausch und die Arbeit mit ihnen, sowie den wertvollen Tipps aus den verschiedensten Bereichen der Käseproduktion konnte ich große Fortschritte machen. Jetzt observiere ich nach verschiedenen Faktoren, wie Säuregehalt von Milch und Molke, den verschiedenen Temperaturen im Fertigungsprozess und anderes mehr die Produktion und Reifung. Mit den gewonnenen Erkenntnissen kann ich gezielter Experimente durchführen und versuchen, eine Herstellung auf einem qualitativ guten und konstanten Niveau zu garantieren. Das Kreieren und Experimentieren macht mir viel Spaß - die andere Seite der Selbstverantwortung!
Ein Tag in der Borie Noble
6.45 Uhr
Plötzlich ertönt ein metallischer schwerer Klang aus dem Herzen eines grünen und verschlafenen Tales, welches noch in leichten Morgennebel getaucht ist. Die große Turmglocke läutete die letzten 40 Jahre. Der Klang hallt über die grünen Grasflächen, über die 450 ha, die der Gemeinschaft gehören.
7.00 Uhr
Ich ziehe noch einmal an der Glockenschnur. Einmal in der Woche gehört dies, einschließlich dem Frühstück zubereiten und dem Feuer machen, zu meinen Aufgaben in der Gemeinschaft. Ich entzünde das Feuer in der Hauptküche, während lautlos einige Gestalten an mir vorbeiziehen, eingehüllt in wollene Gewänder, mit Kerzen in der Hand, auf dem Weg in den Gemeinschaftssaal. Sie setzen sich nieder und beginnen den Tag mit einer Meditation.
7.30 Uhr
Wenn ich den Tisch gedeckt habe, mit Keramikfrühstücksschalen, Kannen mit Tee, einem Topf heißer Milch, läute ich die Glocke ein drittes Mal. Die Meditierenden erheben sich und lockern ihre Glieder. Es wird gefrühstückt.
8.30 Uhr
In der Hauptküche wird das Frühstück abgeräumt und Kisten mit frischem Gemüse, aus dem eigenen Garten, werden auf den Tisch gestellt. Das ist die Stunde der Epluchage (Schälen).
Jeden Tag kocht ein anderer. Alle 1 ? Monate darf ich für 20 - 40 Personen kochen. Auch nicht gerade etwas, was ich gelernt habe. Zu Beginn war ich leicht überfordert, da man zu allem Überfluss das Abendessen und Mittagessen zugleich kocht. Es geht hier nicht um mir bekannte Mengen wie zum Beispiel einen halben Liter Soße - hier geht es um 6-8 Liter!!
Epluchage ist für mich die Zeit, in der Käserei mit der Arbeit zu beginnen.
9.30 Uhr
Beim erneuten Glockenschlag kommen die Bewohner der Borie, einige in Wollmänteln, andere in normaler Kleidung, zusammen zum morgentlichen Gebet. Heute ist Mittwoch, und wie jeden Mittwoch ist das Gebet den "Wahrheitssuchenden" gewidmet, jenen, die nicht einer bestimmten Religion angehören, aber nach einem eigenen spirituellen Weg suchen.
Bei den sonstigen Morgengebeten wird das Gebet einer anderen Religion gewidmet: dem Hinduismus, dem Islam, dem Budismus, dem Judentum, dem Katholizismus und dem nicht katholischen Christentum. Dementsprechend wird jedes mal ein Text gelesen. Heute z.B.
Wird ein kurzer Text aus der Krishnamurti (hinduistisches Gebetbuch) gelesen. Ein kurzes Lied gesungen, gefolgt von Küssen auf die Wangen und einem "Bonjour" zur Linken und zur Rechten. Schlussendlich werden die heute anstehenden Arbeiten besprochen und verteilt.
10.30
Die Glocke erschallt und in der Küche legt der Koch seinen großen Holzlöffel beiseite, im Wald legt der Holzfäller seine Axt zur Seite, auf dem Feld hält der Landwirt seine Pferde an und lockert das Geschirr. In der Töpferei stehen die Töpfereiräder still, in der Tischlerei verstummen die Sägen und Hämmer. Dazwischen erheben sich die Gärtner erleichternd die Glieder streckend vom Boden. Dies ist der "Rappel" ( ..die Erinnerung an..), eine Art Kurzmeditation. Zweck dieses Rappels ist es, die Hektik und Geschäftigkeit für den Moment eines tiefen Atemzuges von der Spannung zu lösen und "gegenwärtig in der Gegenwart sein". Von jetzt an bis zum Ende des Tages wird die Glocke jede volle Stunde zum " Rappel" läuten. Für ein oder zwei Minuten wird das Tal von einer beneidenswerten Ruhe erfüllt und die Stimmen der anderen Bewohner, der Vögel, des durch die Bäume wehenden Windes und des nahen Flusses werden zu hören sein.
13.30
Die Glocke schlägt zum Mittagessen. Im Gegensatz zum Frühstück und Abendessen, wird das große Essen des Tages mit der ganzen Gemeinschaft geteilt. Bei schönem Wetter unter dem Kastanienbaum, bei schlechtem Wetter in der Gemeinschaftshalle. Die Atmosphäre eines gemeinschaftlichen Essens hat immer etwas Festliches (und nicht nur am Sonntag, wenn alle in weiß gekleidet sind und auf dem Menü Nudeln und Wein stehen). Alle Michprodukte, das Brot und das vielfältige Gemüse auf dem Tisch sind "hausgemacht"! und von Anfang bis Ende in der Reinheit von organisch vegetarischem Essen. Jeder singt "Halleluja" zweistimmig, segnet das Brot und isst.
14.30 Uhr
Nach einer kurzen Mittagspause zurück zur Arbeit in den Garten, in den Wald, in die Küche, in die Käserei. Nachmittags wird ungefähr drei Stunden gearbeitet. Das abendliche Melken der Kühe beendet den Arbeitstag. Wenn die Eimer gefüllt mit frischer warmer Milch in die Molkerei gebracht worden sind und die Kühe wieder auf die Weide gelassen werden - dann ist die Arbeit zu Ende.
18.30Uhr
Abendmeditation
19.00 Uhr
Abendessen
20.30 Uhr
Für das Abendgebet nehmen wir uns an den Händen und bilden einen Kreis. Jemand entzündet ein kleines Lagerfeuer in der Mitte. Die Flammen züngeln durch die Zweige.
Rund um tragen die Anwesenden das "Gebet des Feuers" vor, ein philosophisch poetischer Text von Lanza del Vasto geschrieben. Dann ein wunderschöner Text von St. Francis und im Anschluss daran eines der sieben Gelübde der "Arche" (jeden Tag ein anderes). Dies ist der Zeitpunkt der Ruhe. Zeit für ein persönliches Gebet (laut oder in Gedanken), Zeit sich von den Flammen hypnotisieren zu lassen, Zeit mit den Augen die ersten Sterne zu suchen.
Ein zweistimmiger Choral erklingt. Zum Abschluss fragt derjenige, der an diesem Tag das Gebet leitet, ob es Bekanntmachungen gibt. Danach beendet er das Zusammenkommen mit einem "Bonsoir".
Menschen in der Borie, um die Borie und um die Borie herum
In der Borie leben vier Familien mit jeweils zwei Kindern, eine alleinerziehende Mutter, ein Single und drei ältere Damen. Dazu kommen noch fünf Longuestag?res, das sind Praktikanten, die sich entschieden haben, für ein Jahr in der Borie zu leben. Zu etwa zwei Dritteln sind die Bewohner Franzosen, die anderen sind aus Deutschland, Kanada, der Schweiz, Ungarn und Belgien.
Die Longuestagres, eine feste Truppe, essen morgens und abends mit den Kurzstag?res in der großen Gemeinschaftsküche und führen diese dabei in das gemeinschaftliche Leben ein. Jetzt im Winter sind ca. 2 - 5 Kurzstag?res zu Besuch, jeweils für die Dauer von 1 Woche bis zu 1 Monat. Überwiegend handelt es sich um Franzosen, jedoch nicht wenige kommen aus ganz Europa und darüber hinaus. Hat man sich gestern mit einem amerikanischen Friedensaktivisten über die US-Wahlen unterhalten, wird man heute von einer israelischen Studentin gefragt, wie den jungen Menschen in Deutschland heutzutage die Verbrechen an den Juden beigebracht werden. Die Wandernden und Reisenden, mit ihren Geschichten und ihrer Lebenserfahrung geben den Abendessen immer wieder einen nicht nur kulinarischen sondern auch kulturellen Genuss.
In der Nähe der Borie liegen zwei weitere Gemeinschaften der "Arche" Bewegung - La Flayssi?re und Nogaret. Nogaret ist eine verlassene Gemeinschaft und wird nur zu Teilen bewohnt. Der Großteil der Gebäude dort dient als Tagungshaus für spirituelle und kunsthandwerkliche Kurse, wie Kalligraphie, etc. Im Mai wird dort das EIRENE-Zwischenseminar stattfinden. Mit Flayssi?re findet ein reger Austausch statt. Man besucht sich häufig und feiert Feste zusammen. Immer mal wieder tausche ich mich mit dem Käser dort aus, um dadurch von einander zu lernen.
Um die Borie herum gibt es noch eine Handvoll Dörfer, mit vornehmlich Schafzüchtern, die berühmte Roqufortkäserei mit Milch beliefern.
Die Jugendlichen von Roqueredonde, dem nächst gelegenen Dorf, kommen an den Wochenenden zum Ausreiten auf die Borie. Meistens reiten wir ohne Sattel durch die Hügel der Cevennen. Als ungeübter Reiter habe ich dann furchtbaren Muskelkater.
Vor einer Woche, bei einem Ausritt, als wir gerade über eine Hochebene galoppierten, tauchte ganz plötzlich vor unseren Pferden ein Elektrozaun auf. Swaty, mein Reitpferd, konnte ihn offensichtlich nicht sehen, da sie ihr Tempo nicht verlangsamte. In ihrer vollen Dynamik konnte ich sie nicht zum Stehen bringen. Indem ich eine scharfe Kurve ritt, wollte ich das Schlimmste verhindern. Für das Pferd hat die Lösung funktioniert, doch die Fliehkraft holte mich aus dem Sattel. Mit blauen Flecken und einer Hüftprellung hatte ich Glück.
Weihnachten in der Fremde
An Weihnachten füllte sich die Borie mit Verwandten, Bekannten und alten Freunden. Diesen Höhepunkt durfte ich natürlich nicht verpassen. Für mich ein ganz neues Erlebnis, fernab von der mir bekannten weihnachtlichen Stimmung.
Schon die vorweihnachtliche Zeit war etwas Besonderes. Jeder Adventssonntag wurde mit einem kleinen Fest zelebriert. Dabei wurde die Krippe Stück für Stück geschmückt, die Adventskerzen mit einem abendlichen Ritual angezündet, gegessen, musiziert und getanzt.
Am Heiligen Abend waren mehr als 50 Menschen in der Borie. Nach spirituellen Gesängen und einem Grippenspiel wurde die ganze Nacht getanzt - zu Live-Musik versteht sich! Der erste Weihnachtsfeiertag wurde einem mehrstündigen Mahl gewidmet, das begleitet wurde von Theater, Sketchen, Gesang und Musik. Nach einer ausgiebigen Siesta ging der Abend genauso weiter. Es war ein schönes und eindrucksvolles Weihnachtsfest. Trotzdem empfand ich es nicht ganz einfach fernab von meiner Familie zu sein. Ich habe mit einem lachenden und einem weinenden Auge gefeiert.
Ruhe und Kälte
Den Winter über ist es in der Borie sehr ruhig. Wenige Menschen kommen zu Besuch und ab und zu sind wir durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Chance für mich, die festen Bewohner der Borie besser kennen zu lernen. Die Arbeit allein in der dunklen und feuchten Käserei lassen mich die Zähne zusammenbeißen. Das Holzhacken wird zur täglichen Arbeit. Heizt man sein Zimmer nicht gut am Abend ein, weckt einen die Kälte in der Frühe unwillkürlich auf. Es ist die Zeit, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und am Ofen bei einem Pot Tee zu lesen. Es ist aber auch die Zeit, in der man anfängt vom Frühling zu träumnen.
Seid gespannt! ...
Auf bald, Salut,
Philip Palm