Erfahrungsbericht Brasilien
-> Kommentar zu diesem Bericht schreiben- Land
- Brasilien
- Träger
- EIRENE International
- Freiwillige/r
- anonym
Strassenkinder Projekt
Weitere Berichte von Till kannst du hier Downloaden:
2. Rundbrief -> Download
3. Rundbrief -> Download
4. Rundbrief - November 2005 -> Download
1. Rundbrief - Dezember 2004
Drei Monate sind es also schon, die ich mich hier in Recife, Pernambuco, in Brasilien an der Sonne befinde. Bevor ich zum eigentlich wichtigen Teil dieses Schreibens komme - dem Bericht über das Straßenkinder-Projekt und die Arbeit - werde ich ein wenig von meinen bisherigen Erlebnissen, meinem Umfeld und was in der brasilianischen Gesellschaft so zu erleben und zu betrachten ist, erzählen. Wer ausschliesslich an der Arbeit, den Aktivitäten, den Sorgen und Geschehnissen im Projekt interessiert ist, der möge bitte einfach den ersten Teil überspringen.
Nach verspäteter Landung am 16.09.04 in Recife wurde ich direkt von Demetrius, dem Leiter und Initiator des Projektes, nach einem kurzen Zwischenstopp zum Essen, ins Büro der Comunidade dos Pequenos Profetas gefahren und stellte meinen nicht allzu schweren Koffer in meinem netten kleinen Apartment über dem Büro des Projektes im Viertel S�o Jos� des Stadtzentrums von Recife ab, um die folgenden Tage das Projekt und die Städte Recife und Olinda kennenzulernen. Von Anfang an machten die Brasilianer es mir trotz meines sprachlichen Unvermögens durch ihre große Offenheit und Geduld sehr einfach, mich hier vortrefflich einzuleben und viele Leute kennenzulernen. Der Lebens- und Feierfreude der Brasilianer brauchte ich mich nicht besonders anzupassen. Das kulturelle Angebot hier hat mich schnell beeindruckt und beruhigt, das Team im Projekt war und ist unheimlich kollegial, nett und umgänglich - im Allgemeinen herrscht hier im Alltag ein sehr freundlicher und lockerer Umgangston der sowohl bei einem Gespräch mit einem jungen Zeitungsverkäufer, als auch mit einem älteren Herrn im Anzug an den Tag gelegt wird - und das Wetter setzt viele Endorphine in mir frei. Ungeduld habe ich allerdings, diese Sprache endlich vollständig in den Griff zu bekommen, da sie Schlüssel dazu ist, in den Aktivitäten des Projektes tiefer mitzuwirken. Nach wie vor ergeben sich vereinzelt Verständigungsprobleme, vor allem mit den Kindern und Jugendlichen im Projekt, deren Sprachduktus und Vokabular der Strasse bei manch einem Satz sogar den Brasilianern hier Schwierigkeiten bereiten.
Wohnhaft (gewesen, bis vor einer Woche) im Stadtviertel S�o Jos�, bekannt und mir geschildert als das gefährlichste Viertel des Stadtzentrums, erlebe ich den sehr lebendigen, lauten, authentischen Teil Brasiliens tagtäglich und treffe auch außerhalb der Arbeit im Projekt ständig Straßenkinder, die mich kennen.
Morgens ab fünf Uhr donnern die Busse unter meiner Wohnung durch die Strassen und Autos, bestückt mit leistungsstarken Musikanlagen, werben und predigen für diverse Kirchen oder Produkte. Der immerwährende Lärmpegel macht mir nichts aus, da ich wohl ein Stadtmensch bin und mir auf lange Sicht dörfliche Stille eher Schwierigkeiten bereiten würde.
Recifes Innenstadt ist zu Fuß gut begehbar und meine Einkäufe tätige ich meistens im Altstadtviertel, auf dem Markt von S�o Jos�, wo sich die wildesten Gerüche vermischen. Fleisch, Innereien, Gewürze, Fisch, Lederartikel, Blumen, Küchen-Gerüche, Fäkalien, heißer Teer, Parfüm und vieles mehr. Das emsige Treiben einer modernen Gesellschaft in einer Umgebung, die von alten, halb verfallenen, maroden Häusern aus der Kolonialzeit gekennzeichnet ist, wirkt auf mich ein wenig surreal. Es ergibt sich eine Atmosphäre, in der man durch die Architektur und das Kopfsteinpflaster immer an die koloniale Vergangenheit erinnert wird und gleichzeitig einen kalten Luftstoß von der Klimaanlage eines blitz-sauber geputzten Mobiltelefonladens abbekommt.
Das Altstadtviertel macht den kleineren Teil des Stadtzentrums Recifes aus, welches aus zwei Inseln, einem Stück Festland und etlichen Brücken besteht, die diese Inseln miteinander verbinden. Das Erscheinungsbild des Großteils der Innenstadt und besonders der angrenzenden Viertel fällt moderner aus und ist eher durch Hochhäuser geprägt.
Donnerstags und sonntags soll die Innenstadt und insbesondere S�o Jos� besonders gefährlich sein, doch Erlebnisse mit Raub habe ich hier persönlich noch nicht gemacht, nur zweimal in einer anderen Gegend der Innenstadt gesehen. Recife ist kürzlich zur gefährlichsten Stadt Brasiliens gekürt worden, was ich aber anders empfinde. Da ich hier wohne und mich auskenne, fühle ich mich hier im Großen und Ganzen recht sicher. Auch vergleiche ich ständig automatisch meine Erlebnisse mit der Situation in Südafrika, wo ich ein Jahr gelebt habe. Wird man hier ausgeraubt geschieht das meistens, weil der Ausraubende annimmt, dass der "Gringo" materiell mehr aufbietet als ein Brasilianer. In Südafrika kann es vorkommen, dass man nur aufgrund seiner weißen Hautfarbe angegriffen wird, wie es mir passiert ist; diese Angst vor einem rassistischen Übergriff habe ich hier überhaupt nicht. Die brasilianische Gesellschaft ist eben unheimlich gemischt und farbenfroh. Diskriminierung gibt es aber auch hier und wieder einmal sind es die Schwarzen, die darunter leiden. Dazu fällt mir ein Erlebnis vor dem Projekthaus ein: An einem Tag im Oktober, morgens um acht Uhr, kurz vor Öffnung des Hauses warteten bereits etwa fünfzehn Kinder und Jugendliche vor dem Haus. Plötzlich blieb ein Auto mit quietschenden Reifen stehen und ein Polizist lehnte sich aus dem Fahrerfenster. Mit Sonnenbrille auf, seitlich gehaltenem Revolver in der Hand schnauzte er ein paar Befehle und seine vier Kollegen sprangen aus dem Auto, nahmen sich Leo - den größten und dunkelhäutigsten der wartenden Jugendlichen - drückten ihn mit einer Pistole im Genick und den Arm auf den Rücken gedreht mit dem Gesicht an die Wand und redeten irgendetwas von einer ausgeraubten Post. Viel konnte ich nicht verstehen. Etwa fünf Minuten später, als wohl klar war, dass Leo keine Post überfallen hatte, stiegen sie wieder ins Auto, um sich den nächsten Verdächtigen vorzuknöpfen: arme, dunkelhäutige Person, die auf der Strasse steht und lebt - eben eine Beschreibung, die zu fast jedem Straßenkind und Obdachlosen passt. Dieses lächerliche Spielchen der Polizei müssen viele Kinder mitmachen.
In Recife und Olinda habe ich recht schnell die Übersicht gewonnen und komme gelegentlich auch in Vororten und Favelas herum, da dort viele Events und Veranstaltungen stattfinden und ich dort Freunde habe. Die Palette der Musikstile und Tänze, die es hier gibt, ist lang. Das meiste ist afro-brasilianische Kunst, wie Afox�, Maracatu, Capöira, Samba etc. Ständig finden Straßenfeste statt, auf denen diese Sachen präsentiert werden oder einfach nur zum Vergnügen Aller gespielt werden. Über Maracatu und Capöira möchte ich beispielhaft erzählen, da dies vielleicht einen guten Einblick in die Feste, die kulturellen Events (man verzeihe mir den einen oder anderen Anglizismus) und die kulturelle Vielfältigkeit verleiht.
Capoeira
Wie so Vieles des kulturellen Schatzes von Brasilien, verdankt man auch Capoeira den westafrikanischen Sklaven, die zu Tausenden zur Knochenarbeit nach Brasilien gezwungen wurden. Capoeira ist eine Bewegungskunst aus einer Mischung von Tanz und Kampf mit vielen akrobatischen Bewegungen. Im Widerstandskampf der Sklaven hatte Capoeira ursprünglich auch die Funktion, als Mittel zum Kampf zu fungieren. In sogenannten quilombos formierten sich entflohene Sklaven hauptsächlich im Inland Bahias und Pernambucos (Bundesstaaten) und dort wurde Capöira auch nach dem Verbot durch die Kolonialherren weiter betrieben. Man spielt Capoeira in einer Roda, einem Kreis von Leuten, die zum Spiel des Berimb�o (rhytmisches, dreitöniges Musikinstrument) und wahlweise zwei weiterer perkussiver Instrumente und dem Singen des Spielers klatschen und den Refrain mitsingen. Die Musik ist ein wichtiger Teil des Capoeira Spiels. Erst sehr spät, in den dreißiger Jahren, ist Capoeira wieder legalisiert worden. Durch Mestre Pastinha und Mestre Bimba haben sich daraufhin zwei Stile entwickelt: Angola und Regional. Angola ist durch einen langsamen Rhythmus gekennzeichnet, spielt sich mehr am Boden ab und erfordert sehr viel Kontrolle der Bewegungen, da diese langsamer ausgeführt werden. Regional ist schneller, wilder und viel durch akrobatische Bewegungen geprägt. Die Spieler der Capoeira berühren sich in der Regel nicht, sondern spielen einen Dialog der Bewegungen mit Angriff und Verteidigung. So wird es jedenfalls in den Capoeira Schulen gemacht. Auf der Straße sehen die Rodas oft ganz anders aus und kürzlich habe ich eine Roda gesehen, die von der Militärpolizei beendet wurde, da sich die Leute anfingen zu prügeln. Auf der Strasse haben die Rodas oft den Charakter von Kneipenschlägereien, die bestimmten Regeln unterstehen. Oft sehe ich die Straßenrodas nur als Mittel für die Capoeiristas, sich zu profilieren und mit Können anzugeben, was den Sinn und die Intention des Spiels meiner Meinung nach verfehlt. Da Straßenrodas aber auch sehr authentisch sind und in Europa so nicht erlebt werden können, da es zwar Schulen gibt, aber keine Scene auf der Straße, und es in Brasilien eben viele Leute gibt, die Capoeira durch ihr soziales Umfeld erlernen, schaue ich mir nach wie vor gerne Straßenrodas an und erlebe hin und wieder echte Überraschungen in Sachen Kompetenz bei den Spielenden.
Borracha (eigentlich heißt er Julho, aber man kennt ihn unter Borracha, seinen Capoeira-Namen, der übersetzt "Gummi" bedeutet), ein Freund von mir und Capoeirista unterrichtet mich gelegentlich. Er ist ohne Eltern aufgewachsen, wohnt in einer Favela nordwestlich vom Stadtzentrum, wo ich mit ihm trainiere. Mit sieben Jahren fing er an, Capoeira zu spielen und hatte aufgrund seiner armen Herkunft nie eine dauerhafte andere Tätigkeit. So wurde dieser Sport zu seinem Lebensinhalt und heute ist er Capoeirista von Beruf, der sich mit gelegentlichen Jobs in diesem Bereich über Wasser hält. Es war für mich sehr interessant zu erleben, wie das soziale Umfeld vielen Leuten Capoeira beibringt und nur wenige es in einer Schule lernen. Borracha hat sich nach etwa zehn Jahren des Lernens auf der Strasse mit einer Capoeira Schule involviert, durch deren Zertifikat er offiziell Professor ist.
Maracatu
In den Sensalas, den Häusern, in denen die Kolionalherren Hunderte von westafrikanischen Sklaven einpferchten, malträtierten und zur Arbeit zwangen, entstand Maracatu, perkussive Musik, die sich durch schwere und exakte Rhythmen auszeichnet und einen Gesang begleitet. Mit fünf Perkussionsinstrumenten wird Maracatu in großen Gruppen gespielt. Besonders während des Karnevals ziehen große Maracatu - Blocos (Maracatu Gruppen) durch die Straßen. Auch in neueren, progressiveren, modernen Musikstilen, die sich hier im Bundesstaat Pernambuco entwickeln, wie im "Manguebeat", spielt Maracatu eine prägende Rolle. Im ältesten Viertel Recifes, Recife Antigo, spielen ständig Maracatu- Gruppen auf der Straße und man hört die Trommeln schon von der Nachbarinsel. Ich selbst nehme Unterricht in Maracatu.
Besonders hier im Nordosten in der Küstenregion hat der afrikanische Einfluss durch die Sklaven viel von der Geschichte mitgeschrieben und es lässt sich viel erzählen, von Widerständen, Sklaven-Revolten, die letztlich kurz vor dem erhofften Erfolg niedergeschlagen wurden. Aber damit mir für kommende Rundbriefe der Erzählstoff nicht ausgeht, werde ich mir dies aufsparen.
Seit Anfang Oktober habe ich einen Sprachkurs an der Universität von Pernambuco belegt, der in Kürze enden wird. Zweimal pro Woche findet er für zwei Stunden statt und erfordert die im Berufsverkehr fast einstündige Anreise per Bus. Besonders fruchtbar war der Kurs leider nicht, dafür aber umso mehr das private Kommunizieren mit Freunden. Da ich wochentags aber immer bis achtzehn Uhr arbeitenderweise eingespannt bin und mich so natürlich nicht täglich stundenlang mit dem Ausbau der kurzfristigen Kontakte aufhalten kann, hat sich der ein oder andere anfängliche Kontakt ein wenig im Sande verlaufen. Anfang Dezember bin ich zudem nach Olinda, Recifes Nachbarstadt und Weltkulturerbe, gezogen, was aber von der Distanz her kein Problem ist, da ich mit Bus in fünfzehn Minuten in Recifes Zentrum bin. Um mit der Posaune aktiver zu werden, werde ich hier wohl in das Konservatorium eintreten, abends Unterricht nehmen und hoffentlich Gelegenheiten bekommen, mich mit Bands oder anderen Ensembles zu involvieren. Mit einer Freundin, die Afox�-Tanz unterrichtet, habe ich schon experimentell bei ihrer Perkussionsgruppe mitgespielt, was sehr gut funktioniert hat.
Südlich von Recife befinden sich traumhafte Strände, die ich gelegentlich am Wochenende besuche, aber da sich wochenends eben in Recife und Olinda auch so viel erleben lässt, ist es so oft noch nicht vorgekommen. Das möchte ich ändern, zumal ich einen Freund an einem dieser Strände wohnen habe, in dessen Herberge ich günstig wohnen kann.
Seltsamerweise bin ich hier schon öfters krank gewesen, was mir in den letzten paar Jahren so gut wie nie passiert ist. Eine Grippe und Ohrenentzündung habe ich mir eingefangen. Vor einem Monat sogar ein Geschwür im Auge, welches mich zwei Tage quasi nichts sehen und ungewohnte Schmerzen fühlen ließ und das Dümmste passierte mir gleich in der zweiten Woche, als ich mir beim Sturz durch ein Dach einen Muskelfaserriss zugezogen habe (wenn ich den Arzt die Woche darauf im Hospital richtig verstanden habe). Über sechs Wochen konnte ich so nicht Capöira trainieren und auch sonst nicht viel Sport machen. Seine Energien kann man hier aber auch gut anders als mit Sport kompensieren und so habe ich dafür um so mehr erlebt. Da jetzt wieder alles einwandfrei funktioniert, werde ich wieder ins Training einsteigen. Zu guter Letzt habe ich mir jetzt auch noch Krätze eingefangen - das ist natürlich nervenaufreibend und unbehaglich. Irgendwie werd ich mich drüber hinwegtrösten und wenn ich Glück habe, ist es in ein bis zwei Wochen weg. Mir wurde gesagt, dass das Klima hier - heiss und schwül - eben optimaler Nährboden für Keime aller Art sei und da sich auch mein Organismus noch in der Gewöhnungsphase befinde, bekäme ich die mir ungewohnten Krankheiten eben schneller als die Brasilianer.
Gewalt ist hier in den Medien und im gesellschaftlichen Alltag ein großes Thema. Natürlich geschieht auch viel und viele Geschichten habe ich schon zu hören bekommen, natürlich umso mehr, da ich mit Straßenkindern arbeite. Aber auch Freunde erzählten mir Einiges. So wurde ich des öfteren davor gewarnt, besonders nachts nach Hause zu laufen. Da ich aber nicht jedes Mal ein Taxi bezahlen kann und will, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Außerdem, so habe ich oft entgegnet, habe ich ja auch nichts von so viel Wert dabei, dass es besonders tragisch wäre, wenn mich jemand ausraubte. Ein Freund erzählte mir darauf hin, dass dies noch gefährlicher sei, da Leute, die ausrauben und eine Enttäuschung erleben, weil der Ausgeraubte nicht viel aufbringt und sie so umsonst ein großes Risiko eingegangen sind, die ausgeraubte Person aus Frust und Ärger erschießen. In Rio Doce, zweitgrößtes Wohnviertel Südamerikas und Teil von Olinda, wohnt dieser Freund und weiß wie fast jede/r BrasilianerIn Erlebnisse mit Gewaltsituationen zu erzählen. Vor vier Jahren bekam er eine solche Situation mit, als er auf einem Platz in Rio Doce Fußball spielte und einer der Mitspielenden von jemandem mit einer Pistole aufgefordert wurde seine Schulden (ein Real, etwa 30 Cent) zu bezahlen. Der Aufgeforderte sagte, er würde es später machen, da er kein Geld habe. Der Andere wurde sauer, meinte, er warte schon tagelang und zeigte mit der Pistole auf ihn. Das Spiel stoppte; der, der dem anderen Geld schuldete nahm den Ball und sagte, er könne ihn nicht ernsthaft wegen eines Reals erschießen. Er wurde erschossen. Natürlich gab es polizeiliche Nachforschungen über diesen Fall, aber - wie bei so vielen anderen Fällen -hatte leider niemand etwas gesehen.
Mord wegen ähnlich banaler Angelegenheiten kommt vor. Es kann schon reichen, die Freundin des falschen Typen anzuschauen und dann auf seine Drohung noch pampig zu reagieren. Im alten Stadtzentrum sah ich Ende Oktober, wie ein Mann mit einem Brotmesser einen Jungen ausraubte. Der Mann, offensichtlich obdachlos, hatte mich fünf Minuten vorher um etwas Geld gebeten, da ich auf einer Bank zwanzig Meter von diesem Jungen entfernt saß.
Als ich in Recife ankam, war gerade der Wahlkampfhöhepunkt der Kommunalwahlen, was natürlich wiederum bedeutete, einen Grund für viele Feiern zu haben. Die PT, linke Arbeiter- und Regierungspartei, hat in Recife und Olinda mit großem Abstand gewonnen. Zu dieser Zeit konnte ich nie länger als bis fünf Uhr schlafen, da es von Autos mit Musikanlagen bestückt nur so in den Strassen wimmelte, die Wahlkampf mit viel Lärm betrieben.
Es gäbe so viel mehr zu erzählen, aber kommen wir langsam zu den wichtigen Dingen:
Das Projekt, meine Arbeit und Erlebnisse, die mit dem Projekt zu tun haben.
Arbeit, Ereignisse und Erlebnisse im Projekt
Bevor ich Mitte September zum Projekt hinzugestoßen bin, war die Infrastruktur der CPP (Comunidade dos Pequenos Profetas - Gemeinschaft der Kleinen Profeten) anders. Zwei Häuser besitzt die CPP, plus ein Büro - diese drei Einrichtungen befinden sich im Stadtviertel S�o Jos� - und da ist dann noch die Farm des Projektes, die sogenannte Granja, etwa vierzig Kilometer nördlich von Recife. Die beiden Häuser in S�o Jos� waren jeweils das Haus der Meninas (Mädchen) und das der Meninos (Jungen) der Strasse. In ihnen fand also jeweils die pädagogische Arbeit mit Straßenjungen und Straßenmädchen statt. Aufgrund des Mangels an Mitarbeitern - im erweiterten Sinn also auf Grund des Mangels an Geld für die Einstellung weiterer Erzieher - konnten die beiden Häuser aber nur von acht Uhr morgens bis vierzehn Uhr nachmittags geöffnet bleiben. Das bereitete der CPP Magenschmerzen, weil die Kinder so wieder am Nachmittag auf der Strasse waren. Man kann die Zeit, die die Kinder im Projekt verbringen, auch als Schadensbegrenzung begreifen, da sie so während des Tages keine Drogen nehmen, sich nicht in Kämpfe verwickeln oder andere Erfahrungen mit Gewalt machen. Man wollte die Zeit der Betreung in den Projekthäusern also ausweiten und entschloss sich im August zur Zusammenlegung der Häuser in das Haus der Mächen. Dieses Experiment funktionierte sehr gut und so behielt man diesen Zustand bei. Das Haus ist von acht bis achtzehn Uhr geöffnet und Jungen und Mädchen zusammen in einem Haus ergibt auch nicht mehr Probleme oder Konflikte als vorher. In weiterer Planung befindet sich auch ein Großprojekt: der Kauf eines großen Hauses mit optimaler Infrastruktur zur Durchführung der Projektaktivitäten und der Verkauf der beiden anderen Häuser. Aber ich möchte dem nächsten Rundbrief nicht zu viel vorwegnehmen.
Auch neue Ideen über Aktivitäten im Projekt Clarion (die Farm) und über die Zusammenarbeit mit einem Projekt der Stadt Recife, welches Aktionen gegen Kinderarbeit durchführen wird und welches im Jungenhaus der CPP stattfinden wird (so wird dieses Haus nicht leer stehen), sind entstanden. Im Folgenden werde ich möglichst strukturiert von den Neuigkeiten und den Geschehnissen im pädagogischen Alltag des Projekthauses berichten, damit man sich ein möglichst genaues Bild davon machen kann, was die CPP ist.
Aktivitäten im Projekthaus
Zur Erläuterung der im Haus stattfindenden Aktivitäten bedarf es der Darstellung des pädagogischen Konzeptes des Projekthauses. Die Aktivitäten zielen darauf ab, den Kindern ganz einfache Lernprozesse zugänglich zu machen, die ihnen ihre Sozialisation auf der Straße vorenthalten hat. Man muss sich vorstellen, dass viele Kinder unter Drogeneinfluss ins Projekt kommen und, besonders montags, nach einem harten Wochenende, viel Müdigkeit mitbringen. Sie haben nicht die Gewohnheit, eine Aufgabe zu haben, außer sich um die lebensnotwendigen Dinge zu kümmern. Ihnen direkt eine Ausbildung anzubieten, in der sie die Schulbank drücken und sich konzentrieren müssen und dazu noch alphabetisches Basiswissen mitbringen müssen, ist, wenn ein Kind neu im Projekt ist, quasi nicht möglich. Erst müssen sie Basisfertigkeiten erwerben, wie etwa Aufgaben bewältigen zu können oder einen Alltag zu organisieren. Viele Kinder hätten auch keine Motivation an einem Ausbildungskurs teilzunehmen, da die Macht der Gewohnheit sie schnell in ihr soziales Umfeld auf die Strasse mit ihrem Klebstoff zurückführt. Es bedarf eines lanwierigen edukativen Prozesses, den das Projekt mit seinen Aktivitäten versucht durchzuführen und erfreulicherweise auch Erfolge dabei verzeichnen kann. Man bereitet die Kinder darauf vor, einen Ausbildungskurs zu besuchen und schickt sie dorthin, beziehungsweise rät ihnen eindringlich, die Gelegenheit wahrzunehmen. Nur kann die CPP keinen Ausbildungskurs anbieten, da dazu keine finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Und mit der Aufgabe, die Kinder mit notwendigsten Dingen zu versorgen, wie etwa den drei Mahlzeiten täglich oder der Vermittlung in ärztliche Fürsorge und sie auf weitere Kursteilnahmen vorzubereiten, hat man viel zu tun. Natürlich ist man auf Nachhaltigkeit bedacht, und so arbeitet die CPP mit anderen Institutionen zusammen, die ihren Teil dazu beitragen, dass ein Kind von der Straße den Sprung in ein qualitativ hochwertigeres Leben schafft. Jedes Kind, das ins Projekt kommt, bringt einen anderen Hintergrund, eine andere Lebensgeschichte und andere Fertigkeiten und Dispositionen mit, und an uns liegt es zu schauen, wann jemand für den Eintritt in einen Ausbildungskurs geeignet ist. Zum Beispiel ist es ein wichtiger Faktor, wenn er oder sie Interesse an Kooperation und konstruktivem, sozialem Zusammenleben zeigt. Wenn ein Kind oder Jugendlicher des Projektes von sich aus einen Kurs besuchen möchte, steht ihm dies jederzeit frei.
Es existiert der sogenannte "Pacto Metropolitano", ein Pakt zwischen der Bundesregierung, der Landesregierung, den Städten und den Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), durch den sie zusammen- und nicht gegeneinander arbeiten oder gar miteinander konkurrieren. So gibt es ein Programm des Bundesstaates Pernambuco, welches Ausbildungskurse anbietet, an denen Jugendliche aus unserem Projekt teilnehmen. Ein weiteres Projekt der Stadt nennt sich PET (Programa para Erradica��o do Trabalho Infantil- Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit), an dem hundert Kinder teilnehmen werden. Im Januar soll das Programm starten.
Kommen wir nun konkret zu den Aktivitäten des Projekthauses
Capoeira:
Das Capoeira-Training mit den Kindern und Jugendlichen im Haus der Mädchen wurde wieder aufgenommen, da die Stadt Recife das Projekt unter die neun besten sozialen Projekte des Stadt-Sektors, in dem sich die CPP befindet, gewählt hat und so die Gelder für einen Capoeira-Lehrer zur Verfügung stellt. Ricardo unterrichtet die Mädchen und Jungen im Projekthaus.
Perkussion:
Ebenso durch die Stadt Recife finanziert, konnte auch der Perkussionsunterricht, Maracatu, wieder aufgenommen werden. Die Maracatu Gruppe des Projektes ist schon zu Vorführungen eingeladen worden und der Lehrer Alexandre studiert mit der Gruppe ein Programm für diese Auftritte ein. Am 26.11.04 fand ein Auftritt in Recife beim Tribunal das Contas statt.
Alphabetisierungskurs:
Nachmittags wird im Projekt das Lesen und Schreiben unterrichtet. Von den Erziehern verlangt die Motivation zur Teilnahme am Kurs oft viel Mühe ab, aber etwa achzig Prozent der Kinder und Jugendlichen im Haus können mittlerweile lesen und schreiben. Cl�udia, eine Erzieherin im Projekthaus, leitet den Alphabetisierungskurs.
Sozialpsychologische Aktivitäten
Unsere Sozialarbeiterin Silvana und unser Psychologe Luiz Carlos führen die sozialpsychologische Betreuung der Kinder durch. Im Wesentlichen sind dies Einzelgespräche mit den Kindern und daraufhin das Bearbeiten ihrer Probleme. So wird dafür gesorgt, dass die Kinder ärztlich versorgt werden, wenn dies nötig ist. Und auch Hausbesuche und Gespräche mit der Familie des Kindes, sofern diese existiert, werden durchgeführt. Des Weiteren wird versucht, Kontakte mit einer Herberge, einer staatlichen Einrichtung, wo die Leute der Straße nachts unterkommen können, für die Kinder herzustellen. Dies ist nicht ganz einfach, da die Herberge sehr viele Regeln und Einschränkungen als Bedingung für die Nutzung auferlegt und viele Kinder so nicht gewillt sind, die Schlafmöglichkeit wahrzunehmen.
Insgesamt wurden im Monat November 28 Kinder individuell betreut, 8 Hausbesuche unternommen und mit 8 Familien gesprochen und 6 Kinder in ärztliche Behandlung vermittelt und für 10 Kinder offizielle Dokumente, wie Geburtsurkunde und Personalausweis bei den Ämtern besorgt. Weitere Aufgaben der sozial-psychologischen Betreuung sind Erklärungen für die Herbergen zu schreiben, falls ein/e Jugendliche/r aufgrund eines Ausbildungskurses nicht pünktlich erscheinen konnte, oder Ähnliches. Auch nimmt der Psychologe an der Vollversammlung aller Kinder und Mitarbeiter einmal pro Woche teil. Auf dieser Versammlung werden Probleme besprochen und die Kinder sollen dadurch Gelegenheit haben, im edukativen Prozess mitzuwirken und Ideen zu äußern. Unser Psychologe versucht, Probleme der Kinder zu eruieren und nach der großen Diskussion den anderen Mitarbeitern Tipps für ihre Aktivitäten bezüglich der Probleme einzelner Kinder und Jugendlicher zu geben. Auch ist er Vertreter des Projektes bei der monatlichen Versammlung der Comdica-Recife (s.u.) und hält Kontakt mit der Ärztin, welche die Kinder versorgt, da es nicht einfach ist, alle Kinder an die normalen Krankenhäuser zu vermitteln.
"Arte educa��o"
Bei dieser künstlerisch-kreativen Aktivität wird im Vorfeld über ein wichtiges Thema, wie etwa Bürgerrechte, sexuelle Aufklärung, Kinderarbeit oder Drogen gesprochen und daraufhin in Zusammenarbeit ein künstlerisches Werk zu diesem Thema - ein Gemälde oder eine Kollage - entworfen. Die Ergebnisse der kreativen Teilnehmer werden dann meist im Haus für alle sichtbar aufgehängt. Geleitet wird diese Aktivität von Elisabeth, die gerade schwanger ist und an der Universität Kurse im Bereich Kunst und Pädagogik besucht.
Rap-Gruppe "Recife Marginal"
Im Projekt entstand in einem längeren Prozess eine Rap-Gruppe, die zur Zeit in einem Musikstudio eine CD aufnimmt, welche im Dezember erscheinen soll. Ursprünglich hatte man vorgehabt, mit den Jugendlichen Texte über ihnen wichtige Themen zu verfassen. Aus diesen Texten wurden im Laufe der Zeit Lieder, die über die Realität des Lebens auf der Straße berichten und schwerwiegende Probleme, wie den "Todes-Schwadron" der Polizei, Prostitution und Sex-Tourismus oder die Rechtlosigkeit der Leute auf der Straße thematisieren. Ein Auftritt der Gruppe anlässig des Weltjugendtages im kommenden Sommer in Deutschland ist auch geplant. Die Gruppe besteht aus vier Jungen und zwei Mädchen. Geleitet wird das Projekt und die Aufnahme im Studio von Huelkey Anderson.
Weitere Aktivitäten im Projektalltag sind Vorträge zu den verschiedensten Themen und auch das Vorführen von Filmen. Regelmäßig wird auch auf dem nahen Platz Fußball gespielt, was oft mit Problemen verbunden ist, da viele Kinder dort die Gelegenheit haben, Klebstoff zu schnüffeln, weil es für die Erzieher oft unmöglich ist, die Übersicht zu behalten.
Alltagsablauf im Projekthaus
Um acht Uhr morgens öffnet das Haus zum ersten Eintritt und der beginnt für die Kinder und Jugendlichen mit einer obligatorischen Dusche - auf Hygiene wird in Anbetracht von Hautkrankheiten und scherwiegenderen Krankheiten wie etwa Syphillis oder sogar Tuberkolose sehr viel Wert gelegt. Anschließend wird im gemeinsamen Essaal gefrühstückt. Danach beginnen die ersten Aktivitäten, wie etwa Fußball spielen, Arte educa��o oder pädagogische Spiele. Auch die individuelle, sozialpsychologische Betreuung von Mädchen und Jungen wird vormittags vorgenommen. Der Wochenplan gibt vor, an welchem Tag vormittags welche Aktivitäten durchgeführt werden. Gegen zwölf Uhr gibt es Mittagessen und vorher die obligatorische Dusche, falls Sport auf dem Programm gestanden hatte. Nach zwei Stunden Ruhepause, dem Waschen der Teller und Putzen der Küche, fängt das Nachmittagsprogramm an, welches aus dem Alphabetisierungskurs, Perkussions- und Capöira Training besteht. Gelegentlich fallen auch Bastel-Arbeiten oder Rat bei der Körperpflege ins Nachmittagsprogramm. Bevor das Haus um achtzehn Uhr seine Türen schließt, gibt es Abendessen und anschließend die letzten Aufräum- und Putzaktionen.
Es ereignen sich zudem besondere Aktionen, wie etwa Tagesausflüge zum Projekt Clarion, der Farm der CPP. Aufgrund der Spritkosten musste die CPP diese regelmäßigen Ausflüge begrenzen, aber im Oktober konnte ein ganzer Bus gemietet werden, der alle Kinder des Projektes für einen Tag ins Grüne fahren konnte.
Das Team des Projekthauses
Das erzieherisch im Projekthaus arbeitende Team besteht aus dreizehn Personen:
Silv�nia (Sozialarbeiterin), Elisabeth (Erzieherin und zuständig für "Arte educa��o"), Iolanda (Koordinatorin des Hauses), Luiz Carlo (Sozialpsychologe), Carlos Andr (Erzieher), Huelkey Andersom (Erzieher und musikalischer Betreuer der Rap-Gruppe Recife Marginal) , Demetrius (Koordinator und Organisator des Hauses), Cl�udia (Erzieherin und zuständig für den Alphabetisierungskurs), B�rbara (Erzieherin), Alexandre (Lehrer für Perkussion), Ricardo (Capoeira Trainer), Arineide (Aushilfs-Erzieherin für die zur Zeit sich im Schwangerschaftsurlaub befindende Elisabeth) und ich, freiwilliger Helfer aus Deutschland.
Geschehnisse
Seit August sind die beiden Häuser der Mädchen und Jungen mitlerweile zusammengelegt. Dabei hat man eventuell auftretende Schwierigkeiten einkalkuliert und so immer die Option in der Hinterhand behalten, die Jungen und Mädchen wieder auf die zwei Häuser aufzuteilen. Glücklicherweise sieht das Ergebnis aber sehr gut aus, da die CPP die Geschehnisse in einem Haus wesentlich besser koordinieren kann und die Kinder den ganzen Tag an Aktivitäten des Hauses teilnehmen können, was vorher jeweils im Haus der Jungen und im Haus der Mädchen nicht möglich war. Auch spart die CPP weitere Kosten für Strom, Gas und Wasser, die beim Betrieb beider Häuser deutlich höher ausfiehlen.
Das Experiment hat sich gelohnt, aber das Jungenhaus soll dadurch nicht ohne Funktion bleiben. Wie bereits berichtet, gibt es ein Kooperationsprojekt der Stadt Recife und der CPP, welches im Haus der Jungen stattfinden wird und Aktionen gegen Kinderarbeit durchführt. Doch außerhalb des pädagogischen Alltags im Projekthaus, welches von acht Uhr bis achtzehn Uhr geöffnet ist, gibt es auch noch weitere Aktivitäten und Geschehnisse:
Ausbildungskurs
Vier Jungen und ein Mädchen aus dem Projekt (K�nio da Silva Martins, Adolberto Soaris, Gilson Ferreira da Silva, Washington Ferreira Medosa, Andr�a do Nascimento) nehmen an einem Ausbildungskurs teil, der einer Initiative der Stadt Recife zu verdanken ist. Zwei Ausbildungskurse stehen zur Teilnahme zur Verfügung, der eine im Bereich Sicherheit und Gesundheit im Straßenverkehr, der die Jugendlichen zu Aufklärern ausbilden soll, die Autofahrer und andere Verkehrsteilnehmer mit Informationen versorgen und mit der Straßenverkehrspolizei zusammenarbeiten. Der andere Kurs bildet zum Konditor aus - an ihm nehmen die Jugendlichen aus dem Projekt teil.
Besuch von Abgeordneten des deutschen Bundestages
Ein großes Ereignis im Oktober war der Besuch von Delegierten des deutschen Bundestages, die im Projekt einen halben Tag zu Gast waren. Die Perkussionsgruppe hat anlässlich dieses Besuches eine Vorführung geliefert, die vom Fernsehen aufgenommen wurde, welches auch mit den Abgeordneten (Erwin Marschenwski und Thomas Strobl (CDU), Grietje Bettin (Grüne), Hans-Peter Kemper und Tobias Marhold (SPD) und Gisela Piltz (FDP)) das Haus besuchte. Anschließend wurde mittels Dolmetscherin den Kindern des Projektes direkt Fragen gestellt, die die Abgeordneten mit vielen Informationen versorgten und insbesondere von Erfahrungen mit Gewaltanwendungen gegen sie berichteten.
Besuch von Begutachtern der Comdica im Projekt
Die Comdica ist ein Rat für Kinder- und Jugendrechte, welcher per Gesetz in jeder brasilianischen Stadt existiert. Eben diese Comdica erteilt dem Projekt durch seine positiven Gutachten die Gelder für die Finanzierung von Aktivitäten, um deren Finanzierung sich die CPP bewirbt. Zur Zeit sind dies die Gelder für den Capoeira- und Perkussionslehrer. Im November waren wieder Gutachter im Projekt zu Besuch, die mit Mitarbeitern und den Betroffenen - in unserem Fall den Kindern und Jugendlichen von der Straße - des Projektes gesprochen haben und ebenso mit Familien der Kinder und Jugendlichen in Kontakt treten wollten. So lud die CPP ein und sechs Familien, oder zumindest Verwandte von Kindern oder Jugendlichen des Projektes, kamen zu einer Gesprächsrunde mit den Begutachtern der Comdica zusammen. Das Ergebnis des Gutachtens liegt der CPP noch nicht vor, doch machten die Mitarbeiter der Comdica erneut einen zufriedenen Eindruck. In dem Stadt-Sektor, in dem sich die CPP befindet, bewerben sich ca. einhundert Institutionen um finanzielle Hilfe der Comdica.
Neues von der Farm der CPP - dem Projekt Clarion
Die Farm, wir nennen sie "Granja", erbringt wichtige Erträge für das Projekthaus: Bio-Eier, Trinkwasser aus dem Brunnen, Kajufrüchte, Kokosnüsse, Honig aus den Bienenstöcken und eine Wurzelart, die geschält und gekocht wird und hier ein weit verbreitetes Nahrungsmittelprodukt ist. Nach wie vor unterstützt sie dadurch das Projekt erheblich. Auch dient die Farm dazu, den Kindern des öfteren etwas anderes zu Gesicht zu kommen zu lassen, als das alltägliche Bild der Strasse.
Einige Probleme, die es dort zu bewältigen gilt, bereiten der CPP zur Zeit allerdings Kopfschmerzen. Im Moment muss der Traktor wieder auf der Farm eingesetzt werden, da es schon Zeit ist, mit der Pflanzung von Yamswurzeln und Süßkartoffeln zu beginnen, aber unglücklicherweise ist der Traktor defekt. Dazu kommt noch, dass wir eine große Termitenplage auf der Farm haben, ganz zu schweigen von den elektrischen Installationen, die recht gefährlich sind. Alle Gelder, die die CPP bekommt, sind für Nahrungsmittel für die Küche des Projekthauses, Lehrmaterial, Gehälter der Mitarbeiter, Medikamente und Treibstoff vorgesehen - eben für die monatlichen Bedürfnisse - und nicht für all diese Reparaturen. Ein Programm im Bereich agrarwirtschaftlicher Ausbildung soll aber Anfang des nächsten Jahres bereits wieder starten und so liegt ein zeitlicher Druck auf der CPP, da die finanziellen Mittel für die Instandsetzung des Projektes Clarion möglichst schnell aufgetrieben werden müssen. Zudem werden weitere Samen für Anpflanzungen gekauft und ausgesät werden. Paulo, unser Mitarbeiter auf der "Granja" und Mann für alle technischen Fragen, wird schon dafür sorgen, dass alles funktioniert.
Einige individuelle Geschichten: Dejanene
Beispielhaft für die Andersartigkeit der sozialen Umstände, aus denen die Kinder und Jugendlichen im Projekt kommen, werde ich in diesem und auch in den folgenden Rundbriefen von einzelnen Personen aus dem Projekt berichten.
Ihr viertes Kind hat Dejanene im Oktober zur Welt gebracht. Sie ist eine sehr ruhige Person und nimmt sehr regelmäßig an Projekt-Aktivitäten teil. Ihr Kind hat sie an eine Annahmestelle für Neugeborene abgegeben, eine staatliche Einrichtung, da es für sie nicht möglich ist, alle vier Kinder zu versorgen. Dejanene lebt in einem besetzten Haus in der Innenstadt, welches sehr baufällig ist und daher bis vor kurzem noch leer stand. Jetzt wohnen viele ehemals auf der Straße lebende Leute darin.
Schwangere Mädchen sind im Projekt keine Seltenheit. Auch Joyce, sechzehn Jahre alt, Carol, einundzwanzig Jahre alt und ein weiteres Mädchen, welches das Projekt nur selten besucht, sind zur Zeit schwanger. Auch junge Mütter nehmen regelmäßig mit ihren Kleinkindern an Aktivitäten des Projektes teil.
meine Arbeit und anderes
Damit sei also erklärt, was die Comunidade dos Pequenos Profetas ist, das Projekt, in dem sich viel ereignet und in dem ich mit zunehmenden Sprachkenntnissen bestimmt noch einiges mehr vom Leben der Kinder und Jugendlichen erfahren werde.
Meine Arbeit gestaltet sich im Projekthaus recht vielfältig. Beim Perkussions-unterricht helfe ich mit - ich selbst nehme Unterricht und kenne so die Rhytmen, die im Projekt unterrichtet werden. Ebenso spiele ich Fußball und Capoeira mit den Kindern. Beim Capoeira Unterricht, ebenso wie bei Marcatu, helfe ich allerdings nur einmal in der Woche mit, da diese Aktivitäten nachmittags stattfinden, an denen ich oft im Büro arbeite. Anfangs habe ich angenommen, dass die Kinder physisch unheimlich fit und sportlich wären. Einige Kinder können auch tatsächlich einen Salto oder Flick-Flack aus dem Stand darbieten, andere hingegen sehen aber auf Grund schlechter Ernährung, dem Klebstoff-Konsum und Krankheiten, die sie sich auf der Strasse zuziehen, manchmal geradezu ausgemergelt aus.
Bei der Rap Gruppe Recife Marginal spiele ich bei einigen Liedern im Hintergrund auf der rhythmischen Basis mit der Posaune mit und nehme dies im Studio auf. Für die pädagogische Arbeit ist die Sprache natürlich ganz elementar und so werde ich in Zukunft anspruchsvollere Sachen machen können. Kleine Vorträge über Deutschland und Geographie werde ich versuchen durchzuführen und auch Englischunterricht erteilen. Dies soll in erster Linie den Kindern die Erfahrung des Erlernens einer anderen Sprache zu vermitteln. Für mich war es sehr interessant zu erfahren, dass manch ein Kind ein Wort mit dem dazugehörigen Objekt gleich setzt. So dachten manche, ich wisse nicht, was ein Besen ist, da ich das portugiesische Wort nicht kannte. Es war mir nicht möglich zu erklären, dass ich das Objekt mit Sicherheit kenne, nur das portugiesische Wort dafür nicht. Viele Kinder leben eben in ihrer kleinen Welt, der Innenstadt Recifes, in der sie sich dafür aber sehr gut auskennen - da können sie mir so einige Sachen beibringen, die ich mir nicht vorstellen konnte.
Bei Arte educa��o werde ich ebenfalls mithelfen und zusammen mit Elisabeth diverse Themen mit den Kindern besprechen. Die allgemeine Betreuung im pädagogischen Alltag birgt auch Aufgaben, wie die Ausgabe des Essens, Konversationen mit den Kindern führen, Streit schlichten, Gesellschaftsspiele spielen oder etwas basteln. Wichtig ist auch zu schauen, dass die Kinder beim Einlass ins Projekthaus keinen Klebstoff, keine Messer oder andere gefährliche Sachen versuchen, mit hinein zu nehmen und im Bad keine Klebstoffdämpfe inhalieren.
Einmal hinderte ich Stephanie daran, einen Pflasterstein auf Bab�os Kopf zu schlagen. Die beiden hatten sich sehr wild gestritten, geprügelt und wurden so aus dem Haus geschickt, da Gewalt im Haus nicht geduldet wird. Im Tumult konnte Stephanie aber doch wieder ins Haus und fast wieder auf Bab�o losgehen, mit einem Pflasterstein von der Straße. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind nicht besonders rücksichtsvoll im gegenseitigen Umgang. Einmal habe ich gesehen, wie der gerade mal neun Jahre alte Andr� eine Flasche am Boden zerschlug und sie auf jemand anders warf. Glücklicherweise hat er nicht getroffen, aber dies zeigt, dass viele sich über mögliche Konsequenzen ihres Handelns gar nicht bewusst sind. Ein Beispiel des rauen Umgangs untereinander, ist das oft vorkommende sich gegenseitige Bewerfen mit Mangos außerhalb des Projekthauses (Mangos wachsen hier an jedem dritten Baum). Wenn sich Streitereien hochschaukeln, werden auch manchmal Steine benutzt. Dies kommt auch beim Fußballspielen und anderen Aktivitäten außerhalb des Projekthauses vor und so hat man oft Arbeit damit, Konflikte zu lösen. Es kommen auch gelegentlich Kinder mit Verletzungen durch Glasscherben oder Messer ins Projekt. Ein Junge, der regelmäßig ins Projekthaus kommt, hat durch diverse Kämpfe etwa 20 Narben an Rücken, Armen, Bauch und Brust. Man muss versuchen, sie für rücksichts- und respektvolle Verhaltensweisen zu sensibilisieren.
Mehr helfen konnte ich bisher im Büro des Projektes, wo ich Briefe und Berichte auf Deutsch und Englisch übersetze, seit November Berichte für die deutschen Solidaritätsgruppen des Projektes schreibe und versuche, Kontakte mit Organisationen, die Straßenkinderprojekte unterstützten, herzustellen. Bei dieser Arbeit lerne ich zwar weniger Dinge, dafür aber ganz anderer Art. Wie sich die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) finanzieren, welche Kontakte mit Solidaritätsgruppen bestehen, dass man ständig befürchten muss, die notwendigen Finanzen zur Weiterführung des Projektes nicht zusammenzubekommen, welche staatlichen Auflagen zu erfüllen sind etc.
Viele Dinge sind gewöhnungsbedürftig gewesen, besonders auch, dass viele Kinder streng aus dem Mund nach Kleister riechen und andere Sorgen haben, als auf ihren Organismus besonderen Wert zu legen und so eben auch Krankheiten haben, mit denen man sich nicht anstecken will. Damit lernt man schnell zurechtzukommen und misst der Hygiene so nicht umsonst einen großen Wert bei. Berührungsängste sind fehl am Platz, es würde abweisend wirken und um diese Erfahrung zu machen, bräuchten die Kinder nicht ins Projekt zu kommen. Das Leben auf der Strasse zeichnet sie oft markant, und trotzdem zeigen sie in vielen Situationen ein gute Portion Lebensfreude. Auf der anderen Seite existieren natürlich Ängste vor der Polizei und den Todesschwadronen, die mordende Übergriffe auf Straßenkinder verübt haben. Ist so ein Übergriff in S�o Jos� geschehen, so erzählte mir Demetrius, bleibt das Projekthaus einige Tage recht leer, da die Kinder dann in andere Stadtteile ziehen, in dem Glauben, dort sicherer zu sein. Die Arbeit des Projektes ist nicht in allen gesellschaftlichen Kreisen anerkannt, z.B. nicht für die "Todesschwadrone", die die Lösung dieses sozialen Problems darin sehen, die Kinder zu töten. Demetrius wurde vor Jahren von solchen Leuten zusammengeschlagen und ist sehr vorsichtig. So findet man seine Anschrift und Telefonnummer in keinem öffentlichen Telefonbuch.
Einen Einblick in das Leben der Straßenkinder zu bekommen, ist sehr eindrucksvoll. Ständig treffe ich Kinder und Jugendliche aus dem Projekt in der Innenstadt Recifes, man begrüßt sich und öfters unterhalte ich mich kurz mit ihnen. Oft ist dies mit viel Herumgealber verbunden, selten treffe ich sie ohne Klebstofflaschen an und werde meistens um Geld gebeten. Einige haben das allerdings schon aufgegeben und wohl gemerkt, dass sie mich nicht wie einen "Gringo", sondern eben wie die anderen Erzieher behandeln können. Bei diesen Begegnungen richten sich oft verdutzte Blicke der Passanten auf uns.
Dass ich viele Leute von der Strasse kenne, lässt mich sicherer fühlen. Es kommt vor, dass Jugendliche oder sogar Kinder von der Straße jemanden ausrauben und oft dabei von irgendwelchen Kriminellen benutzt werden. Ein Junge hat mir erzählt, dass es Leute gibt, die den Jugendlichen ein Waffe leihen, mit der sie dann jemanden ausrauben und einen Teil der Beute dem abgeben müssen, der ihnen die Waffe ausgeliehen hat. Anfang November saß ich abends mit einem Freund an den Kais, der Busbahnhof Recifes, wartete auf seinen Bus und sah einen Jungen aus dem Projekt, der mit einigen Kollegen die Straße herunter kam. Er sah mich und kam auf mich zu, während seine Kollegen ein Mädchen ausraubten, welches etwa zwanzig Meter neben uns an der Bushaltestelle stand. Die umherstehenden Leute bevorzugten es Abstand zum Geschehen zu nehmen und ich gab dem Jungen zu verstehen, dass ich die Aktion seiner Freunde überhaupt nicht gut fand. Doch er sagte mir, dass er da halt nichts machen könne und er hatte recht. Die Realität der Strasse ermöglicht nicht, sich überall einzumischen. Raub ist kein lukratives Geschäft und birgt sehr grosse Risiken, daher kann man nicht annehmen, dass es die Mehrheit aus reiner Bosheit oder Profitgier macht und nicht auch lieber eine andere Möglichkeit wahrnehmen würde, an Geld zu kommen, wenn diese bestünde. Vorgestern las ich in der Zeitung, dass Marconi und ein weiterer Junge, die beide öfters das Projekt besuchen, von der Polizei erwischt wurden, als sie versuchten jemanden auszurauben. Für die nächsten sechs Monate werden wir sie mit Sicherheit nicht sehen.
Ich schiebe den Kindern keine Schuld in die Schuhe, wenn sie sich in kriminelle Aktivitäten involvieren. Ich glaube nicht, dass ich solche Gelegenheiten nicht wahrnehmen würde, wenn ich die Sozialisation auf der Strasse durchlaufen hätte. Zudem ist natürlich nicht die Mehrheit der Kinder in schwerwiegende Sachen wie Raub involviert. Auf dem Markt etwas zu Essen geklaut hat aber bestimmt jeder schon einmal.
Durch den Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen der Strasse lerne ich viel. Es ergibt sich ein zweiseitiges Bild: Auf der einen Seite zeigt sich viel Lebensfreude, und wenn mir Anselmo mit einem Lachen auf dem Gesicht erzählt, dass er wegen eines Kavalierdeliktes acht Monate im Knast gesessen hat, erinnert mich das an den von den verschleppten Schwarzen in den USA erfundenen Blues, bei dem man mit Fröhlichkeit traurig, oft eben auch über Trauriges singt. Dass viele Kinder trotz des Ernstes ihres Alltags soviel Spaß haben können, lässt jeden Tag im Projekt zu einem Erlebnis werden, meistens zu einem sehr lauten.
Genug der Worte. Wenn Sie/Ihr Fragen habt, werde ich sie gerne beantworten. Alles weitere dann im nächsten Rundbrief, der mit Sicherheit weniger umfangreich ausfallen wird.
Herzlichste Grüße und selbstverständlich vielen, herzlichen Dank dafür, dass Sie/Ihr mir diesen Friedensdienst ermöglichen / ermöglicht.
Till