Erfahrungsbericht Tunesien
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- Tunesien
- Träger
- El Qantara - Die Brücke e.V.
- Freiwillige/r
- anonym
Association des Myopathes de la Tunisie (AMT)
Die AMT ist eine kleine Organisation, die sich um an Muskeldystrophie Erkrankte kümmert. Muskeldystrophie ist eine neurologische Krankheit, die genetisch vererbt wird und den stufenweisen Abbau der Muskeln zur Folge hat. Dies kann bis zur fast vollständigen Bewegungsunfähigkeit führen.
Aufgrund der katastrophalen Situation der sozialen Infrastruktur des Landes sind viele Menschen bitterarm; besonders Familien mit an Dystrophie leidenden Familienmitgliedern sind von der Armut schwer betroffen und können sich Grundlegendes wie Nahrung und Kleidung nicht leisten, geschweige denn medizinische Versorgung und die oftmals benötigten Atemgeräte, Rollstühle und deren Zubehör.
Die AMT versucht diesen Bedürfnissen nachzukommen und die Menschen mit den benötigten Hilfsmitteln zu versorgen. Da die Association jedoch nur eine sehr kleine Organisation ist, vom Staat kaum Unterstützung erhält und also auf finanzielle und materielle Spenden angewiesen, ist diese Art der Hilfe nur in begrenztem Rahmen möglich.
Die Mitglieder des Vorstandes sind selbst von der Krankheit betroffen oder haben betroffene Familienangehörige.
Am ersten September 2005 kamen wir in Tunis an. Gleich zu Beginn gab es einen Crashkurs die tunesische Verkehrssituation und Fahrweise betreffend: Brahim, Chauffeur der AMT und wie ein väterlicher Freund für uns, obwohl wir uns verbal nur rudimentär verständigen können, holte uns vom Flughafen ab und brachte uns wortlos bei, dass Anzahl der Spuren, Ampeln und Vorfahrtsregeln im täglichen Leben der Willkür der am Verkehr Teilnehmenden unterworfen sind (der freien Interpretation überlassen). Die erste Station war eine Autowerkstatt irgendwo im Getümmel der Nachmittagshitze der Großstadt. Das Auto und wir mussten dreieinhalb Stunden dort ausharren, was uns ermöglichte, erste Bekanntschaften mit dem Straßenstaub zu machen - der sich anfreundete mit der weißen Leinhose...
Statt an den Arbeitsplatz oder in die versprochene Ein-Zimmer-Wohnung gebracht zu werden, kamen wir in ein Schulzentrum, in dem Martin und Jakob vorübergehend arbeiten und in dem wir auch erst einmal - bis das Zimmer gestrichen sei - unterkommen sollten. Zwei Matratzen lagen bereit und in der täglichen Erwartung, endlich umziehen zu dürfen, lebten wir aus unseren Koffern. Zwei Wochen teilten wir vier uns das Zentrum mit dem Wachmann und seiner Schildkröte, denn die Schule begann erst am fünfzehnten.
Jeden Tag fuhren wir beiden zum Büro der AMT in El Manar II, mit dem Bus über verworrene Wege. Am ersten Arbeitstag drückte man uns Berge von Stoffstücken in die Hand - aus denen einmal Hosen und Hemden werden sollen - die wir zählen und sortieren durften. Im Büro arbeiten neben Brahim noch Jileny der Assistent Social, dem wir zunächst unterstanden, Rim die Buchhalterin, M. Bassaoui der Direktor und Mme Ben Mustafa die Sekretärin. Wir wurden sehr nett empfangen von allen und pflegen seitdem ein mehr oder weniger freundschaftliches Verhältnis.
Mittags wurden wir in der ersten Zeit zum Essen immer zu Sabäh und Chudä, den Präsidentinnen der Association chauffiert, um dort unser Mittagsmahl einzunehmen, liebevoll zubereitet von Nana, der Hausherrin und Mutter der beiden, die sich uns gleich als neue Großmutter präsentierte. Sie aß mit uns zusammen und lehrte uns die Härten der tunesischen Gastfreundschaft: keines der zwei bis drei Hauptgerichte mit Beilagen durften wir auslassen und ja nicht zu wenig auf dem Teller haben. Begleitet wurde dies von Erzählungen aus der Familienchronik und zunehmend auch von ihrer subjektiven Einschätzung der politischen und gesellschaftlichen Situation: Hasstiraden gegen die Juden, US-Amerikaner, CIA und Mossad. Ansichten, die, wie wir mit immer größerem Entsetzen feststellen sollten, sehr begeistert von sehr vielen Menschen hier geteilt werden, auch und vor allem an unserem Arbeitsplatz im Büro. Hier mussten wir uns schon öfter auf Diskussionen einlassen, in denen uns eine teilweise an Fanatismus grenzende Religiosität offenbart wurde, in der unsere Gesprächspartner das Handabhacken bei Dieben, Steinigungen von Homosexuellen und EhebrecherINNEN nicht nur befürworten, sondern sich solche Strafen als internationales Recht wünschen. Ein rationales Diskutieren mit sachlichen Argumenten ist meist nicht möglich und eine Argumentation außerhalb von Sharia und Koran findet oft keine Berechtigung. Immer wieder werden wir damit konfrontiert, auch gegen unseren Willen. (Es sind nicht wir, die diese Diskussionen provozieren!) Immerhin werden wir mittlerweile bei der Arbeit weitestgehend von den Missionierungsversuchen verschont, die zu Beginn noch penetrant waren. Andere Menschen außerhalb der Arbeit versuchen öfter, uns mit aller Kraft zu bekehren, was sehr abschreckend ist, weil sie dabei eine unerwartete Radikalität und Heftigkeit in Denk- und Sprechweise an den Tag legen können.
Zu Rim, Jileny und vor allem zu Brahim und Mme Ben Mustafa haben wir dennoch ein recht freundschaftliches Verhältnis, obgleich mit einiger Distanz. Mit so krassen Ansichten hatten wir nicht gerechnet (diese gehen hauptsächlich von Jileny und Rim aus).
Zunächst einmal sollten wir administrative Arbeit leisten, weil erstens die Sprachbarriere noch zu hoch lag, um mit den Erkrankten und in ihren Familien direkt zu arbeiten, und weil wir außerdem die Arbeits- und Funktionsweise der AMT kennen lernen sollten. Das mit der Arbeitsweise hatten wir nach wenigen Tagen Aktenordnen begriffen, das mit der Sprache ist ein andauernder Prozess...
Mit Jileny mussten wir einzelne Dokumente den jeweiligen Akten der über zweihundert Myopathes (Myopathie ist der französische Ausdruck für Muskeldystrophie), denen die AMT derzeit hilft (wobei nur um die hundert die Mitgliedsbeiträge von drei Dinar - ca. zwei Euro - pro Jahr bezahlen) zuordnen, eine ziemlich nervtötende Arbeit, die wir aber noch relativ lange ausüben sollten... Oft saßen wir auch einfach nur herum, weil es nichts zu tun gab für uns; das begann nach den ersten zweieinhalb Wochen.
Man sagte uns, dass wir noch bis Ramadan - dem Fastenmonat der Muslime und zweitausendfünf im Oktober (es ist ein Wandermonat) - im Büro bleiben sollten, um bald Couffins zu packen und es sich nicht lohne, für ein oder zwei Wochen in die Familien zu gehen.
Kurz vor Ramadan begannen wir also, die Couffins zu packen, das sind Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Couscous, Tomatenmark, Nudeln, Milch, Zucker, Mehl und vielem mehr für die bedürftigen Familien der Myopathes und diese dann auszuteilen. Dadurch konnten wir Erfahrungen im Kartonsammeln machen - wir brauchten über hundert- und gelangten zu unserem ersten Diplom für das professionelle Abfüllen von Fünfzigkilozuckersäcken in kleine Beutel. Es war auf jeden Fall sinnvolle Arbeit, aber immer noch nicht die, für die wir hierher gekommen waren. Wir vermuten, dass die AMT noch nicht so recht wusste, was sie mit uns anfangen sollte, da die Arbeit von jungen Freiwilligen in sozialen Projekten hier noch etwas nicht allzu Verbreitetes ist und es an Erfahrung mangelt - ihnen wie uns, und auch El Qantara ist ja ein noch sehr junger Verein, der dabei ist, Erfahrungen zu sammeln. Wir hoffen, dass sich dies alles mit der Zeit professionalisieren wird.
Beim Austeilen der fünfzig Couffins im Großraum Tunis kamen wir erstmals in näheren Kontakt mit den Familien. Dabei bekamen wir Einblicke in die Lebensumstände dieser Menschen:
Viele der Familien sind relativ groß und oft sind mehrere Mitglieder an Dystrophie erkrankt. Sehr viele leben in Randbezirken von Tunis, wo die Mehrheit der Bevölkerung arm ist und die "Straßen" oft aus nicht mehr als Schlamm und Dreck bestehen, sodass den Dystrophikern nicht einmal mehr eine vernünftige Fortbewegung mit dem Rollstuhl möglich ist. Auch die Wohnungen sind häufig sehr klein und dennoch fällt es vielen schwer die monatliche Miete, Strom- und Wasserrechnung zu bezahlen.
Einer erzählte uns, er habe seine Decke verkaufen müssen um diese Kosten aufbringen zu können und bat um eine Patenschaft - die Association vermittelt Patenschaften bei denen ein Pate monatlich einen Betrag an einen Erkrankten zahlt.
Wenn es finanziell möglich ist, unterstützt die AMT (in Kooperation mit Hilfsorganisationen und anderen Spendern) auch den Bau kleiner Häuser oder Arbeitsprojekte wie zum Beispiel den kleinen Kiosk von Hedi aus Sidi Bousid.
Mohammed hat ebenfalls einen Teil seiner Wohnung zum Kiosk umfunktioniert, allerdings reicht das verdiente Geld längst nicht für seinen Lebensunterhalt: ein Bett zum Beispiel ist zu teuer und er schläft auf dem Boden auf einer Decke.
Es mag abstrus erscheinen, dass wir gerade während des Fastenmonats Kartons voll mit Essen verteilen, aber an Ramadan wird noch viel mehr gegessen als sonst. Martin, Jakob und wir haben das Fasten den ganzen Monat lang mitgemacht. Das bedeutet, dass von Sonnenaufgang (fünf Uhr) bis zum Kanonenschuss bei Sonnenuntergang (achtzehn Uhr) weder gegessen noch getrunken wird. Am Anfang war vor allem die Flüssigkeitsabstinenz nicht einfach, aber wir haben uns schnell an das Fasten gewöhnt. Das verbindet mit den Menschen um einen herum, denn auch die, die nicht fasten, halten sich in der Öffentlichkeit meist zurück. Die Cafés haben nach dem Fastenbrechen bis in die Nacht geöffnet, die Straßen sind voller Menschen und fast jeder Tag hat etwas Feierliches, wenn das Fasten gebrochen wird (in dem Moment wirkt draußen alles wie ausgestorben). Wir waren oft eingeladen bei Freunden und Bekannten und auch völlig fremden Menschen, die uns das Nationalgericht Couscous kochten und alle Ramadanspezialitäten, die zusammen ein mehrgängiges Menü ausmachen.
Den Rest der Nacht verbrachten wir immer mit Martin und Jakob im Café oder auf dem Dach der Schule in Ariana und erfanden die legendären Süßestückchentouren, auf denen unsere Mägen in den (Über-)Genuss der tunesischen Gebäckspezialitäten kamen (die da sind getränkt mit Zuckersirup)... Während dieser Zeit durften wir auch endlich umziehen in unser kleines Zimmer direkt neben der Association. Zwei Betten passen hinein und es hat ein Klo. Zum Glück haben wir auch Schlüssel zum Büro, in dem es eine Küche gibt und warmes Wasser und in der wir uns viel aufhalten zum lesen und schreiben und erzählen.
Wir sind uns einig, dass Ramadan die bisher schönste Zeit hier war! Auch, weil wir so einen engeren Kontakt zu den Menschen bekamen. Denn es ist nicht sehr einfach hier, enge Freunde zu gewinnen. Die Gastfreundschaft ist zwar riesig, aber oft bleibt eine innere Distanz und es entwickeln sich eher Bekanntschaften als Freundschaften (Das liegt wohl auch daran, dass es in unserem Arbeitsumfeld kaum Leute in unserem Alter gibt, über die man noch viele andere kennen lernen könnte).
Jetzt genießen wir es vor allem, wenn wir ein bisschen in das Innere des Landes reisen können und auch Abstand gewinnen zu dem Stress, dem wir hier ausgesetzt sind, denn Tunis ist ein lärmender, nie ruhender Moloch, der auf Dauer an den Nerven zehrt, was vor Allem auffällt, wenn man auf einmal zwischen verschlafenen Ruinen spazieren geht und die Vögel zwitschern hört.
Beim Aid-Fest nach Ramadan waren wir bei einer Kollegin von Martin und Jakob am Rande der Wüste, die auch Sehnsucht entfacht nach stundenlangen Spaziergängen in Kargheit und asketischem Leben...
Für das Packen und das Austeilen der Couffins mussten wir uns durch den Dschungel des Depots kämpfen - in welchem wacklige Stapel von Kleiderspenden und scharfkantige Utensilien für Basare und Feste uns nach dem Leben trachteten - um neben den Nahrungsmitteln auch Kleider zu verteilen. Der Zustand des Depots war untragbar und immer mehr Kleiderspenden drohten es unbenutzbar zu machen, also blieb uns nichts anderes übrig, als ein Ordnungssystem zu konzipieren und in die Tat umzusetzen. Seitdem sind wir mehr oder weniger für das Depot verantwortlich.
Mittlerweile hielten wir die Sprachbarriere - inzwischen sprachen wir ein paar Brocken Tunesisch und hatten die Sprachkurse in der Bourguiba School angetreten - nicht länger für ein allzu großes Hindernis, außerdem hat uns der Kontakt mit den Menschen beim Austeilen der Couffins noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig es für uns ist, mit ihnen direkt zu arbeiten. Also fragten wir bei einigen Familien an, ob sie Unterstützung von uns wünschten. Dies stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, denn vielen ist es unangenehm, sich bei so intimen Dingen wie dem Stuhlgang, An- und Auskleiden oder auch dem Essen helfen lassen zu müssen, vor allem wenn dies von nicht speziell ausgebildeten jungen Männern gemacht werden soll. Hinzu kommt, dass wie bereits erwähnt die Gastfreundschaft in der tunesischen Kultur eine sehr wichtige Rolle spielt und sich die Familien verpflichtet fühlen, Fremde wie uns wie Gäste oder sogar Könige zu behandeln - auch wenn wir explizit sagen, dass wir nicht als Gäste, sondern als Helfer kommen! -, was sie sich natürlich nicht leisten können, weshalb sie unsere Hilfe von vornherein unter irgendwelchen Vorwänden ablehnen. Wir verweilten und langweilten uns also weiterhin im Büro, machten alle auch nur möglichen Inventare von Depoträumen, Schubladen, Schränken und neuen Sachspenden.
Zwei Dystrophiekranke, Hedi und Naima, hatten derweil angefragt, ob es möglich sei, dass ihnen des Nachts jemand zur Verfügung stehe, der sie auf Wunsch im Bett umdrehe. So kam es, dass wir eines Abends von Ahm Brahim (das heißt Onkel Brahim) nach Mourouge I gebracht wurden. Dort machten wir Bekanntschaft mit der ganzen Familie, die uns sehr warm empfing. Im Verlaufe des Abends unterhielten wir uns mit den Beiden und spielten mit ihren kleinen Nichten.
Nachts schliefen wir schichtweise, damit immer jemand sofort zur Stelle war. Das Umdrehen mussten sie uns erklären, da wir noch keine Erfahrung mit dem physischen Umgang mit Muskeldystrophikern hatten. Da diese Nachtarbeit aber sehr an unseren Kräften zehrte, der Ort recht weit weg ist und wir wohl auch nicht die vielleicht erwartete professionelle Hilfe aufbringen konnten, war unser Dienst dort nach einigen Tagen beendet.
Wir kümmerten uns also wieder primär um das Depot, die Vergabe von Hilfsmitteln und andere Kleinigkeiten wie Inventare und Botengänge. Es kamen auch neue Lebensmittelspenden für weitere Couffins, die von uns gepackt werden wollten.
Im Dezember mussten wir ausreisen und wieder einreisen, um ein neues Touristenvisum zu bekommen und verbrachten mehr oder weniger freiwillig die Weihnachtszeit im Schoße der Familie und Freunde...
In unserer Umgebung in Manar - übrigens eine Neureichengegend, in der nicht annähernd soviel Kontakt mit und zwischen den Anwohnern besteht wie in Ariana, das ein populärerer Stadtteil ist - haben wir uns gut eingelebt, Freundschaften mit den Hausmeistern, Wachmännern und Gemüsehändlern geschlossen. Das Alltagsleben der Großstadt ist nun nichts Fremdes mehr für uns, wir haben unsere Stammgeschäfte (inzwischen wissen wir auch, wo man alkoholische Getränke erwerben kann), Freunde und Orientierung in Tunis. Am Wochenende sind wir oft eingeladen und auch in der Woche kommen manchmal Freunde vorbei.
Wir haben uns Fahrräder zugelegt, dank derer wir perfekt an die hiesige Verkehrssituation angepasst sind und selbstständig und unabhängig - abgesehen vom Fahrradreparateur, der öfter aushelfen muss - uns fortbewegen können.
In Ermangelung einer Warmwasserdusche (jene Martin und Jakob teilen) gehen wir vier inzwischen jeden Freitag in ein kleines Hamemm in Ariana - das ist wie ein römisches Bad mit Heißwasserraum, Kaltwasserraum und Waschräumen, und wenn man möchte, kann man sich vom Tajebb-Mann die abgestorbenen Hautpartikel herunterrubbeln lassen, was sehr angenehm ist und einem ein unglaubliches Gefühl von Sauberkeit schenkt.
Man kann das schon als typisch für die tunesische Lebensweise betrachten, denn viele Menschen hier sind ebenfalls badlos. Hinterher gehen wir immer Läbläbbj essen, das ist ein Kichererbseneintopf mit altem Brot, Harissa, Ei usw.
Unter der Woche sind wir vormittags im Büro und weiterhin zuständig für Inventare und das Depot. Mittags essen wir gemeinsam mit Rim und Madame Ben Mustafa, was ein sehr schönes Ritual geworden ist.
Danach fahren wir zu Hichem, wo wir seit Neujahr von Montag bis Donnerstag einige Stunden am Tag arbeiten. Er ist ein sehr aufgeweckter Junge, der aber wegen seiner Krankheit und der aus Bewegungsmangel resultierenden Körperfülle kaum Kontakt zur Außenwelt hat. Seine Mutter Azziza arbeitet tagsüber und sein Vater Mohammed ist Nachtwächter - er arbeitet im Alter von zweiundsiebzig Jahren von fünf Uhr Nachmittags bis fünf Uhr Morgens und schläft tagsüber. Er opfert sich in jeder Hinsicht für seinen Sohn auf und versucht, ihm das Leben so schön wie möglich zu gestalten, was diesen freilich auch ziemlich verwöhnt. Hichem ist also relativ alleine mit Fernseher und Playstation und braucht Freunde, die ein wenig Alltag mit ihm teilen und ihn etwas begleiten. Das machen wir, und wir stellen fest, dass es noch eine Menge anderer Dinge gibt, in denen wir ihn unterstützen können: infolge seines Alleinseins und der Verwöhnung ist er relativ egozentrisch geworden und es fällt ihm schwer, anderen Leuten zuzuhören oder sich überhaupt auf etwas länger zu konzentrieren. Zudem sind wir für ihn ein Tor zu der Welt, die nicht diejenige des Fernsehens ist, sondern eine natürliche. Wenn es wärmer wird und die Batterie seines Rollstuhles repariert ist, wollen wir unbedingt Ausflüge mit ihm unternehmen.
Hichem ist sehr sprachbegabt, spricht sehr gut Französisch und möchte gerne Deutsch lernen, was ihm beizubringen wir versuchen werden. Bis dorthin ist es wohl noch ein langer Weg, aber wir verstehen uns sehr gut, er hat unheimlich viel Lebensfreude und -energie, hört gerne Musik, spielt Dame und sehr gerne an der Playstation Fußball und seine Neugier für alles Unbekannte scheint grenzenlos zu sein. Es bereitet ihm auch sehr viel Freude, uns etwas beizubringen, wie etwas Arabisch oder das Damespiel.
Oft bringen wir unsere CDs mit und versuchen, mit ihm bewusst einzelne Stücke anzuhören, was auch eine Konzentrationsübung ist, denn er hat das Zappsyndrom und schaltet Musik und Fernsehsender meist nach sehr kurzer Zeit um oder redet ununterbrochen und sehr sprunghaft von völlig verschiedenen Dingen, die miteinander nichts zu tun haben.
Wir haben auch schon versucht, kleine Comicstrips mit ihm zu lesen, auf Deutsch und auf Englisch, was wir vertiefen wollen. Das letzte Mal hatten wir eine Maultrommel dabei; Hichem war begeistert und wir haben zusammen versucht, Rhythmen zu basteln (er kann die Maultrommel mit der einen Hand an den Mund halten, und man muss sie dann für ihn anschlagen). Vielleicht kann man auch das weiterführen, falls das den schlaflosen und ziemlich ermüdeten Mohammed nicht in den Wahnsinn treibt. Dieser behandelt uns wie Söhne und wir hoffen, auf Dauer auch ihn etwas entlasten zu können, was auch nicht einfach ist, denn in seiner Freundschaft versucht er, uns so wenig Umstände zu machen wie möglich... Wir fühlen uns bis jetzt recht wohl dort und hoffen, dass unsere Arbeit Früchte tragen wird.
Wir denken, dass man diese sehr gut als feste Zivildienstelle ausschreiben könnte, was wir allerdings noch ausführlich mit Mohammed, Hichem und Azziza besprechen müssen und sicher auch mit den Sabäh und Chudä.
Aufgrund der katastrophalen Situation der sozialen Infrastruktur des Landes sind viele Menschen bitterarm; besonders Familien mit an Dystrophie leidenden Familienmitgliedern sind von der Armut schwer betroffen und können sich Grundlegendes wie Nahrung und Kleidung nicht leisten, geschweige denn medizinische Versorgung und die oftmals benötigten Atemgeräte, Rollstühle und deren Zubehör.
Die AMT versucht diesen Bedürfnissen nachzukommen und die Menschen mit den benötigten Hilfsmitteln zu versorgen. Da die Association jedoch nur eine sehr kleine Organisation ist, vom Staat kaum Unterstützung erhält und also auf finanzielle und materielle Spenden angewiesen, ist diese Art der Hilfe nur in begrenztem Rahmen möglich.
Die Mitglieder des Vorstandes sind selbst von der Krankheit betroffen oder haben betroffene Familienangehörige.
Arbeit und Leben in Tunis
Am ersten September 2005 kamen wir in Tunis an. Gleich zu Beginn gab es einen Crashkurs die tunesische Verkehrssituation und Fahrweise betreffend: Brahim, Chauffeur der AMT und wie ein väterlicher Freund für uns, obwohl wir uns verbal nur rudimentär verständigen können, holte uns vom Flughafen ab und brachte uns wortlos bei, dass Anzahl der Spuren, Ampeln und Vorfahrtsregeln im täglichen Leben der Willkür der am Verkehr Teilnehmenden unterworfen sind (der freien Interpretation überlassen). Die erste Station war eine Autowerkstatt irgendwo im Getümmel der Nachmittagshitze der Großstadt. Das Auto und wir mussten dreieinhalb Stunden dort ausharren, was uns ermöglichte, erste Bekanntschaften mit dem Straßenstaub zu machen - der sich anfreundete mit der weißen Leinhose...
Statt an den Arbeitsplatz oder in die versprochene Ein-Zimmer-Wohnung gebracht zu werden, kamen wir in ein Schulzentrum, in dem Martin und Jakob vorübergehend arbeiten und in dem wir auch erst einmal - bis das Zimmer gestrichen sei - unterkommen sollten. Zwei Matratzen lagen bereit und in der täglichen Erwartung, endlich umziehen zu dürfen, lebten wir aus unseren Koffern. Zwei Wochen teilten wir vier uns das Zentrum mit dem Wachmann und seiner Schildkröte, denn die Schule begann erst am fünfzehnten.
Jeden Tag fuhren wir beiden zum Büro der AMT in El Manar II, mit dem Bus über verworrene Wege. Am ersten Arbeitstag drückte man uns Berge von Stoffstücken in die Hand - aus denen einmal Hosen und Hemden werden sollen - die wir zählen und sortieren durften. Im Büro arbeiten neben Brahim noch Jileny der Assistent Social, dem wir zunächst unterstanden, Rim die Buchhalterin, M. Bassaoui der Direktor und Mme Ben Mustafa die Sekretärin. Wir wurden sehr nett empfangen von allen und pflegen seitdem ein mehr oder weniger freundschaftliches Verhältnis.
Mittags wurden wir in der ersten Zeit zum Essen immer zu Sabäh und Chudä, den Präsidentinnen der Association chauffiert, um dort unser Mittagsmahl einzunehmen, liebevoll zubereitet von Nana, der Hausherrin und Mutter der beiden, die sich uns gleich als neue Großmutter präsentierte. Sie aß mit uns zusammen und lehrte uns die Härten der tunesischen Gastfreundschaft: keines der zwei bis drei Hauptgerichte mit Beilagen durften wir auslassen und ja nicht zu wenig auf dem Teller haben. Begleitet wurde dies von Erzählungen aus der Familienchronik und zunehmend auch von ihrer subjektiven Einschätzung der politischen und gesellschaftlichen Situation: Hasstiraden gegen die Juden, US-Amerikaner, CIA und Mossad. Ansichten, die, wie wir mit immer größerem Entsetzen feststellen sollten, sehr begeistert von sehr vielen Menschen hier geteilt werden, auch und vor allem an unserem Arbeitsplatz im Büro. Hier mussten wir uns schon öfter auf Diskussionen einlassen, in denen uns eine teilweise an Fanatismus grenzende Religiosität offenbart wurde, in der unsere Gesprächspartner das Handabhacken bei Dieben, Steinigungen von Homosexuellen und EhebrecherINNEN nicht nur befürworten, sondern sich solche Strafen als internationales Recht wünschen. Ein rationales Diskutieren mit sachlichen Argumenten ist meist nicht möglich und eine Argumentation außerhalb von Sharia und Koran findet oft keine Berechtigung. Immer wieder werden wir damit konfrontiert, auch gegen unseren Willen. (Es sind nicht wir, die diese Diskussionen provozieren!) Immerhin werden wir mittlerweile bei der Arbeit weitestgehend von den Missionierungsversuchen verschont, die zu Beginn noch penetrant waren. Andere Menschen außerhalb der Arbeit versuchen öfter, uns mit aller Kraft zu bekehren, was sehr abschreckend ist, weil sie dabei eine unerwartete Radikalität und Heftigkeit in Denk- und Sprechweise an den Tag legen können.
Zu Rim, Jileny und vor allem zu Brahim und Mme Ben Mustafa haben wir dennoch ein recht freundschaftliches Verhältnis, obgleich mit einiger Distanz. Mit so krassen Ansichten hatten wir nicht gerechnet (diese gehen hauptsächlich von Jileny und Rim aus).
Zunächst einmal sollten wir administrative Arbeit leisten, weil erstens die Sprachbarriere noch zu hoch lag, um mit den Erkrankten und in ihren Familien direkt zu arbeiten, und weil wir außerdem die Arbeits- und Funktionsweise der AMT kennen lernen sollten. Das mit der Arbeitsweise hatten wir nach wenigen Tagen Aktenordnen begriffen, das mit der Sprache ist ein andauernder Prozess...
Mit Jileny mussten wir einzelne Dokumente den jeweiligen Akten der über zweihundert Myopathes (Myopathie ist der französische Ausdruck für Muskeldystrophie), denen die AMT derzeit hilft (wobei nur um die hundert die Mitgliedsbeiträge von drei Dinar - ca. zwei Euro - pro Jahr bezahlen) zuordnen, eine ziemlich nervtötende Arbeit, die wir aber noch relativ lange ausüben sollten... Oft saßen wir auch einfach nur herum, weil es nichts zu tun gab für uns; das begann nach den ersten zweieinhalb Wochen.
Man sagte uns, dass wir noch bis Ramadan - dem Fastenmonat der Muslime und zweitausendfünf im Oktober (es ist ein Wandermonat) - im Büro bleiben sollten, um bald Couffins zu packen und es sich nicht lohne, für ein oder zwei Wochen in die Familien zu gehen.
Kurz vor Ramadan begannen wir also, die Couffins zu packen, das sind Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Couscous, Tomatenmark, Nudeln, Milch, Zucker, Mehl und vielem mehr für die bedürftigen Familien der Myopathes und diese dann auszuteilen. Dadurch konnten wir Erfahrungen im Kartonsammeln machen - wir brauchten über hundert- und gelangten zu unserem ersten Diplom für das professionelle Abfüllen von Fünfzigkilozuckersäcken in kleine Beutel. Es war auf jeden Fall sinnvolle Arbeit, aber immer noch nicht die, für die wir hierher gekommen waren. Wir vermuten, dass die AMT noch nicht so recht wusste, was sie mit uns anfangen sollte, da die Arbeit von jungen Freiwilligen in sozialen Projekten hier noch etwas nicht allzu Verbreitetes ist und es an Erfahrung mangelt - ihnen wie uns, und auch El Qantara ist ja ein noch sehr junger Verein, der dabei ist, Erfahrungen zu sammeln. Wir hoffen, dass sich dies alles mit der Zeit professionalisieren wird.
Beim Austeilen der fünfzig Couffins im Großraum Tunis kamen wir erstmals in näheren Kontakt mit den Familien. Dabei bekamen wir Einblicke in die Lebensumstände dieser Menschen:
Viele der Familien sind relativ groß und oft sind mehrere Mitglieder an Dystrophie erkrankt. Sehr viele leben in Randbezirken von Tunis, wo die Mehrheit der Bevölkerung arm ist und die "Straßen" oft aus nicht mehr als Schlamm und Dreck bestehen, sodass den Dystrophikern nicht einmal mehr eine vernünftige Fortbewegung mit dem Rollstuhl möglich ist. Auch die Wohnungen sind häufig sehr klein und dennoch fällt es vielen schwer die monatliche Miete, Strom- und Wasserrechnung zu bezahlen.
Einer erzählte uns, er habe seine Decke verkaufen müssen um diese Kosten aufbringen zu können und bat um eine Patenschaft - die Association vermittelt Patenschaften bei denen ein Pate monatlich einen Betrag an einen Erkrankten zahlt.
Wenn es finanziell möglich ist, unterstützt die AMT (in Kooperation mit Hilfsorganisationen und anderen Spendern) auch den Bau kleiner Häuser oder Arbeitsprojekte wie zum Beispiel den kleinen Kiosk von Hedi aus Sidi Bousid.
Mohammed hat ebenfalls einen Teil seiner Wohnung zum Kiosk umfunktioniert, allerdings reicht das verdiente Geld längst nicht für seinen Lebensunterhalt: ein Bett zum Beispiel ist zu teuer und er schläft auf dem Boden auf einer Decke.
Es mag abstrus erscheinen, dass wir gerade während des Fastenmonats Kartons voll mit Essen verteilen, aber an Ramadan wird noch viel mehr gegessen als sonst. Martin, Jakob und wir haben das Fasten den ganzen Monat lang mitgemacht. Das bedeutet, dass von Sonnenaufgang (fünf Uhr) bis zum Kanonenschuss bei Sonnenuntergang (achtzehn Uhr) weder gegessen noch getrunken wird. Am Anfang war vor allem die Flüssigkeitsabstinenz nicht einfach, aber wir haben uns schnell an das Fasten gewöhnt. Das verbindet mit den Menschen um einen herum, denn auch die, die nicht fasten, halten sich in der Öffentlichkeit meist zurück. Die Cafés haben nach dem Fastenbrechen bis in die Nacht geöffnet, die Straßen sind voller Menschen und fast jeder Tag hat etwas Feierliches, wenn das Fasten gebrochen wird (in dem Moment wirkt draußen alles wie ausgestorben). Wir waren oft eingeladen bei Freunden und Bekannten und auch völlig fremden Menschen, die uns das Nationalgericht Couscous kochten und alle Ramadanspezialitäten, die zusammen ein mehrgängiges Menü ausmachen.
Den Rest der Nacht verbrachten wir immer mit Martin und Jakob im Café oder auf dem Dach der Schule in Ariana und erfanden die legendären Süßestückchentouren, auf denen unsere Mägen in den (Über-)Genuss der tunesischen Gebäckspezialitäten kamen (die da sind getränkt mit Zuckersirup)... Während dieser Zeit durften wir auch endlich umziehen in unser kleines Zimmer direkt neben der Association. Zwei Betten passen hinein und es hat ein Klo. Zum Glück haben wir auch Schlüssel zum Büro, in dem es eine Küche gibt und warmes Wasser und in der wir uns viel aufhalten zum lesen und schreiben und erzählen.
Wir sind uns einig, dass Ramadan die bisher schönste Zeit hier war! Auch, weil wir so einen engeren Kontakt zu den Menschen bekamen. Denn es ist nicht sehr einfach hier, enge Freunde zu gewinnen. Die Gastfreundschaft ist zwar riesig, aber oft bleibt eine innere Distanz und es entwickeln sich eher Bekanntschaften als Freundschaften (Das liegt wohl auch daran, dass es in unserem Arbeitsumfeld kaum Leute in unserem Alter gibt, über die man noch viele andere kennen lernen könnte).
Jetzt genießen wir es vor allem, wenn wir ein bisschen in das Innere des Landes reisen können und auch Abstand gewinnen zu dem Stress, dem wir hier ausgesetzt sind, denn Tunis ist ein lärmender, nie ruhender Moloch, der auf Dauer an den Nerven zehrt, was vor Allem auffällt, wenn man auf einmal zwischen verschlafenen Ruinen spazieren geht und die Vögel zwitschern hört.
Beim Aid-Fest nach Ramadan waren wir bei einer Kollegin von Martin und Jakob am Rande der Wüste, die auch Sehnsucht entfacht nach stundenlangen Spaziergängen in Kargheit und asketischem Leben...
Für das Packen und das Austeilen der Couffins mussten wir uns durch den Dschungel des Depots kämpfen - in welchem wacklige Stapel von Kleiderspenden und scharfkantige Utensilien für Basare und Feste uns nach dem Leben trachteten - um neben den Nahrungsmitteln auch Kleider zu verteilen. Der Zustand des Depots war untragbar und immer mehr Kleiderspenden drohten es unbenutzbar zu machen, also blieb uns nichts anderes übrig, als ein Ordnungssystem zu konzipieren und in die Tat umzusetzen. Seitdem sind wir mehr oder weniger für das Depot verantwortlich.
Mittlerweile hielten wir die Sprachbarriere - inzwischen sprachen wir ein paar Brocken Tunesisch und hatten die Sprachkurse in der Bourguiba School angetreten - nicht länger für ein allzu großes Hindernis, außerdem hat uns der Kontakt mit den Menschen beim Austeilen der Couffins noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig es für uns ist, mit ihnen direkt zu arbeiten. Also fragten wir bei einigen Familien an, ob sie Unterstützung von uns wünschten. Dies stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, denn vielen ist es unangenehm, sich bei so intimen Dingen wie dem Stuhlgang, An- und Auskleiden oder auch dem Essen helfen lassen zu müssen, vor allem wenn dies von nicht speziell ausgebildeten jungen Männern gemacht werden soll. Hinzu kommt, dass wie bereits erwähnt die Gastfreundschaft in der tunesischen Kultur eine sehr wichtige Rolle spielt und sich die Familien verpflichtet fühlen, Fremde wie uns wie Gäste oder sogar Könige zu behandeln - auch wenn wir explizit sagen, dass wir nicht als Gäste, sondern als Helfer kommen! -, was sie sich natürlich nicht leisten können, weshalb sie unsere Hilfe von vornherein unter irgendwelchen Vorwänden ablehnen. Wir verweilten und langweilten uns also weiterhin im Büro, machten alle auch nur möglichen Inventare von Depoträumen, Schubladen, Schränken und neuen Sachspenden.
Zwei Dystrophiekranke, Hedi und Naima, hatten derweil angefragt, ob es möglich sei, dass ihnen des Nachts jemand zur Verfügung stehe, der sie auf Wunsch im Bett umdrehe. So kam es, dass wir eines Abends von Ahm Brahim (das heißt Onkel Brahim) nach Mourouge I gebracht wurden. Dort machten wir Bekanntschaft mit der ganzen Familie, die uns sehr warm empfing. Im Verlaufe des Abends unterhielten wir uns mit den Beiden und spielten mit ihren kleinen Nichten.
Nachts schliefen wir schichtweise, damit immer jemand sofort zur Stelle war. Das Umdrehen mussten sie uns erklären, da wir noch keine Erfahrung mit dem physischen Umgang mit Muskeldystrophikern hatten. Da diese Nachtarbeit aber sehr an unseren Kräften zehrte, der Ort recht weit weg ist und wir wohl auch nicht die vielleicht erwartete professionelle Hilfe aufbringen konnten, war unser Dienst dort nach einigen Tagen beendet.
Wir kümmerten uns also wieder primär um das Depot, die Vergabe von Hilfsmitteln und andere Kleinigkeiten wie Inventare und Botengänge. Es kamen auch neue Lebensmittelspenden für weitere Couffins, die von uns gepackt werden wollten.
Im Dezember mussten wir ausreisen und wieder einreisen, um ein neues Touristenvisum zu bekommen und verbrachten mehr oder weniger freiwillig die Weihnachtszeit im Schoße der Familie und Freunde...
In unserer Umgebung in Manar - übrigens eine Neureichengegend, in der nicht annähernd soviel Kontakt mit und zwischen den Anwohnern besteht wie in Ariana, das ein populärerer Stadtteil ist - haben wir uns gut eingelebt, Freundschaften mit den Hausmeistern, Wachmännern und Gemüsehändlern geschlossen. Das Alltagsleben der Großstadt ist nun nichts Fremdes mehr für uns, wir haben unsere Stammgeschäfte (inzwischen wissen wir auch, wo man alkoholische Getränke erwerben kann), Freunde und Orientierung in Tunis. Am Wochenende sind wir oft eingeladen und auch in der Woche kommen manchmal Freunde vorbei.
Wir haben uns Fahrräder zugelegt, dank derer wir perfekt an die hiesige Verkehrssituation angepasst sind und selbstständig und unabhängig - abgesehen vom Fahrradreparateur, der öfter aushelfen muss - uns fortbewegen können.
In Ermangelung einer Warmwasserdusche (jene Martin und Jakob teilen) gehen wir vier inzwischen jeden Freitag in ein kleines Hamemm in Ariana - das ist wie ein römisches Bad mit Heißwasserraum, Kaltwasserraum und Waschräumen, und wenn man möchte, kann man sich vom Tajebb-Mann die abgestorbenen Hautpartikel herunterrubbeln lassen, was sehr angenehm ist und einem ein unglaubliches Gefühl von Sauberkeit schenkt.
Man kann das schon als typisch für die tunesische Lebensweise betrachten, denn viele Menschen hier sind ebenfalls badlos. Hinterher gehen wir immer Läbläbbj essen, das ist ein Kichererbseneintopf mit altem Brot, Harissa, Ei usw.
Unter der Woche sind wir vormittags im Büro und weiterhin zuständig für Inventare und das Depot. Mittags essen wir gemeinsam mit Rim und Madame Ben Mustafa, was ein sehr schönes Ritual geworden ist.
Danach fahren wir zu Hichem, wo wir seit Neujahr von Montag bis Donnerstag einige Stunden am Tag arbeiten. Er ist ein sehr aufgeweckter Junge, der aber wegen seiner Krankheit und der aus Bewegungsmangel resultierenden Körperfülle kaum Kontakt zur Außenwelt hat. Seine Mutter Azziza arbeitet tagsüber und sein Vater Mohammed ist Nachtwächter - er arbeitet im Alter von zweiundsiebzig Jahren von fünf Uhr Nachmittags bis fünf Uhr Morgens und schläft tagsüber. Er opfert sich in jeder Hinsicht für seinen Sohn auf und versucht, ihm das Leben so schön wie möglich zu gestalten, was diesen freilich auch ziemlich verwöhnt. Hichem ist also relativ alleine mit Fernseher und Playstation und braucht Freunde, die ein wenig Alltag mit ihm teilen und ihn etwas begleiten. Das machen wir, und wir stellen fest, dass es noch eine Menge anderer Dinge gibt, in denen wir ihn unterstützen können: infolge seines Alleinseins und der Verwöhnung ist er relativ egozentrisch geworden und es fällt ihm schwer, anderen Leuten zuzuhören oder sich überhaupt auf etwas länger zu konzentrieren. Zudem sind wir für ihn ein Tor zu der Welt, die nicht diejenige des Fernsehens ist, sondern eine natürliche. Wenn es wärmer wird und die Batterie seines Rollstuhles repariert ist, wollen wir unbedingt Ausflüge mit ihm unternehmen.
Hichem ist sehr sprachbegabt, spricht sehr gut Französisch und möchte gerne Deutsch lernen, was ihm beizubringen wir versuchen werden. Bis dorthin ist es wohl noch ein langer Weg, aber wir verstehen uns sehr gut, er hat unheimlich viel Lebensfreude und -energie, hört gerne Musik, spielt Dame und sehr gerne an der Playstation Fußball und seine Neugier für alles Unbekannte scheint grenzenlos zu sein. Es bereitet ihm auch sehr viel Freude, uns etwas beizubringen, wie etwas Arabisch oder das Damespiel.
Oft bringen wir unsere CDs mit und versuchen, mit ihm bewusst einzelne Stücke anzuhören, was auch eine Konzentrationsübung ist, denn er hat das Zappsyndrom und schaltet Musik und Fernsehsender meist nach sehr kurzer Zeit um oder redet ununterbrochen und sehr sprunghaft von völlig verschiedenen Dingen, die miteinander nichts zu tun haben.
Wir haben auch schon versucht, kleine Comicstrips mit ihm zu lesen, auf Deutsch und auf Englisch, was wir vertiefen wollen. Das letzte Mal hatten wir eine Maultrommel dabei; Hichem war begeistert und wir haben zusammen versucht, Rhythmen zu basteln (er kann die Maultrommel mit der einen Hand an den Mund halten, und man muss sie dann für ihn anschlagen). Vielleicht kann man auch das weiterführen, falls das den schlaflosen und ziemlich ermüdeten Mohammed nicht in den Wahnsinn treibt. Dieser behandelt uns wie Söhne und wir hoffen, auf Dauer auch ihn etwas entlasten zu können, was auch nicht einfach ist, denn in seiner Freundschaft versucht er, uns so wenig Umstände zu machen wie möglich... Wir fühlen uns bis jetzt recht wohl dort und hoffen, dass unsere Arbeit Früchte tragen wird.
Wir denken, dass man diese sehr gut als feste Zivildienstelle ausschreiben könnte, was wir allerdings noch ausführlich mit Mohammed, Hichem und Azziza besprechen müssen und sicher auch mit den Sabäh und Chudä.